Süddeutsche Zeitung

Claire Keegan: "Kleine Dinge wie diese":Die gefallenen Wäscherinnen

Die irische Autorin Claire Keegan zeigt mit dem Roman "Kleine Dinge wie diese" wie die Gewalt der katholischen Kirche so lange unter der Oberfläche bleiben konnte.

Von Christoph Schröder

Der Wind bläst über das winterliche Land. Die Schornsteine stoßen Rauchschwaden aus. Die Menschen in der Kleinstadt New Ross stapfen durch die Kälte auf dem Weg zu ihrer Arbeit. Es ist kurz vor Weihnachten, in der Stadt wird gebacken und gebraut, Geschenke gekauft, die Lichter glänzen, doch "es war ein Dezember der Krähen. Derartig viele hatte man noch nie gesehen. In schwarzen Schwärmen versammelten sie sich vor der Stadt, drangen dann ins Zentrum vor, hüpften durch die Straßen".

In der Düsternis der Natur spiegelt sich in Claire Keegans bemerkenswerten und vom Steidl-Verlag außergewöhnlich schön gestalteten Roman die depravierte Lage eines Landes. Wir befinden uns, obwohl die Assoziation naheliegt und von Claire Keegan in Anspielungen auch bewusst geweckt wird, nicht in Charles Dickens' Welt des 19. Jahrhunderts, sondern im ökonomisch und, wie sich herausstellen wird, auch moralisch heruntergewirtschafteten Irland des Jahres 1985. Scharenweise fliehen die jungen Menschen mangels Perspektive aus dem Land in Richtung Amerika.

All diese Begleitumstände inszeniert Claire Keegan, geboren 1968 und für ihren 2013 erschienenen Roman "Das dritte Licht" im englischsprachigen Raum gefeiert, geradezu beiläufig. Zwar ist das Zentrum von "Kleine Dinge wie diese" ein handfester, über Jahrzehnte hinweg verschwiegener Skandal, doch findet Claire Keegan einen subtilen und eleganten Weg, um auf engem Raum sowohl die Verdrängungsmechanismen als auch einen inneren Erkenntnisprozess sichtbar zu machen. Beides vollzieht sich in der Hauptfigur Bill Furlong, dem Kohlen- und Brennstoffhändler von New Ross.

Furlong ist ein aufrechter Mann, vaterlos aufgewachsen, der seine sechsköpfige Familie gerade so durchbringt und es sich hin und wieder gestattet, von einem anderen Leben zu träumen. Eines Tages stöbert er bei einer seiner Kohlenauslieferungen im oberhalb von New Ross gelegenen Kloster ein verwahrlostes junges Mädchen auf, das ihn um Hilfe bittet. Kurz darauf sind die Nonnen da und bereinigen die Situation, doch Bills Gedanken kreisen von nun an um das, was er gesehen hat.

Und vor allem darum, dass er etwas nicht wissen wollte, das er schon lange hätte wissen können: In den sogenannten Magdalenen-Wäschereien, betrieben von der katholischen Kirche, wurden seit den späten 1820er-Jahren bis ins Jahr 1996, man kann sich das kaum vorstellen, "gefallene Mädchen" - Prostituierte oder auch alleinstehende schwangere Mädchen - gefangen gehalten und zur Arbeit gezwungen. Die neugeborenen Kinder wurden ihnen weggenommen. Die Arbeitsbedingungen waren unmenschlich. Wie viele Frauen dort im Lauf der Jahrzehnte gestorben sind, liegt bis heute im Dunkeln.

Claire Keegan erläutert die Historie der Wäschereien in einem knappen Nachwort. Ihr Roman arbeitet die Kette von Verschweigemechanismen und Abhängigkeiten heraus, die das Unterdrückungssystem in den Wäschereien überhaupt erst ermöglicht hat. Ja, Gerüchte hat es gegeben über die Mädchen, doch Bill Furlong hat sie nie geglaubt oder wollte sie nicht glauben. Und darüber hinaus: Wie könnte er, selbst wenn er wollte, sich gegen die mächtige katholische Kirche stellen und damit die Zukunft seiner Töchter aufs Spiel setzen, die er im katholischen Mädcheninternat anmelden möchte?

Claire Keegan braucht keine großen Worte, um das Hin- und Hergerissensein ihres Protagonisten darzustellen. Sie ist eine hochbegabte Verknapperin, deren Figuren sich auf dünnem Eis bewegen, zwischen tatsächlicher Unschuld und perfektionierter Ignoranz. "Kleine Dinge wie diese" ist letztendlich ein optimistisches Buch, weil in Bill Furlong selbst die Erkenntnis reift, dass er die Verpflichtung hat, nicht mehr zu schweigen, jetzt, da er mit eigenen Augen gesehen hat, was vor sich geht.

Es sind kurze, beiläufige Sätze, in denen Keegan ihrer Hauptfigur das höhere moralische Gesetz einschreibt: Es bedürfe, so heißt es, "einer fremden Person, um Dinge an den Tag zu bringen". Und ganz am Ende denkt sich Bill, dass das Schlimmste, was hätte passieren können, schon hinter ihm liegt: "das, was nicht getan wurde". Dickens' "A Christmas Carol" hat Bill in seiner Kindheit stets getröstet. Claire Keegan hat das Weihnachtsmärchen ins nächste Jahrhundert transportiert. Ende offen.

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