Christoph Schlingensief:Der Dreckskerl da drinnen

Ein begrenzt verhandelbares Leben: An diesem Montag erscheint Christoph Schlingensiefs bewegendes Tagebuch über seine Krebserkrankung.

Christopher Schmidt

Auch nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus denkt Christoph Schlingensief weiter darüber nach, sein Leben zu ändern: "Die zentrale Frage wird sein, wie ich diesen alten Halligalli-Christoph mit seinem Bedürfnis, wahrgenommen zu werden und überall dabei zu sein, umbauen kann", schreibt er. An einem Tag im Februar 2008 liest er auf der Suche nach einem Haus auf dem Land ein Inserat im Internet, in dem es heißt: "Begrenzt bis 2011, verhandelbar." Und Schlingensief denkt: "das geht doch wunderbar. Länger muss es doch gar nicht sein. Wenn das nicht zum Heulen ist."

Christoph Schlingensief: Christoph Schlingensief: Tagebuch über den Krebs.

Christoph Schlingensief: Tagebuch über den Krebs.

(Foto: Foto: dpa)

Dem Arzt, der ihm einen Lungenflügel und einen Teil des Zwerchfells entfernt hat, schenkt er ein Buch mit "Arbeitsfotos von mir", ein Schlingensief-Buch also, wie es kaum anders sein kann bei einem Künstler, dem alles, was er berührt, zum Teil seiner selbst wird, Fleisch von seinem Fleisch. Christoph Schlingensief hat die Trennung zwischen Kunst und Leben noch nie akzeptiert, hat immer schon geradezu zwanghaft an den Stäben des goldenen Käfigs der Kunstfreiheit gerüttelt. Als im Januar 2008 ein bösartiger Tumor in seiner Lunge entdeckt wurde, konnte es nicht anders sein, als dass auch diese Erkrankung in jene "Verwertungsanlage Schlingensief junior" eingehen würde, in der er seine Biographie kannibalisiert und seine Haut zu Markte getragen hat.

Raus aus dem Rambazamba

"Ich gieße eine soziale Plastik aus meiner Krankheit. Und ich arbeite am erweiterten Krankenbegriff", schreibt Schlingensief in Anlehnung an Joseph Beuys. Nun liegen die Protokolle, die er dabei auf Tonbänder gesprochen hat, unter dem Titel "So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!" in Buchform vor. Auszüge aus dem Buch wurden bereits im Herbst vergangenen Jahres im Magazin dieser Zeitung veröffentlicht, die Tonband-Aufzeichnungen dienten auch als Textgrundlage für die Theater-Trilogie, deren erster Teil bei der Ruhrtriennale uraufgeführt und mit der Ready-made-Oper ,"Mea Culpa" im März am Wiener Burgtheater vollendet wurde. So hatte das Krebs-Tagebuch, bevor man es lesen konnte, bereits eine ganze Verwertungskette sowie verschiedene Umformungen und Überschreibungen durchlaufen.

Doch trotz all dieser Vorwegnahmen, über deren maßlose Egomanie man sich empören kann angesichts der Tausende, die jeden Tag sterben, ohne ein Echo zu erzeugen, trotz des Tremolos der narzisstischen Kränkung, vom Krebs gefressen zu werden - trotz aller pathetischen Überhöhung seiner Krankheit ins Messianische ("Gott wird sagen: Was ist das denn für ein Weichei?") und aller Koketterie mit der Todesverfallenheit ("Ich habe die Wunde der Welt berührt, die Wunde des Leben-Wollens und Sterben-Müssens") ist dieses Buch eine der wichtigsten Neuerscheinungen dieses Frühjahres.

Der Krebs erwischt Christoph Schlingensief in der Phase höchster Lebensbeschleunigung, als Vollbremsung seines rastlosen Schaffens. Liebevoll und von beißender Sehnsucht gequält, verspottet er amüsant sein vormaliges Ich als aufgeregte Skandal- und Kitschnudel des Kunstbetriebs, diese "Kaffeeklatsch-Hektik" überall "mitzujückeln", das unausgesetztes "Rambazamba" mit erhöhtem "Trubelfaktor", um festzustellen: "der Rummelplatz bleibt jetzt einfach mal geschlossen".

Er schwört sich, kürzer zu treten, will die geplante Braunfels-Oper in Berlin sausen lassen, und je inständiger er beteuert, er werde die Regie absagen, desto deutlicher wird, dass er es nicht tun wird. Noch vom Krankenlager aus leitet er schließlich die Proben per Fernanweisungen, weil er eben doch nicht dafür geschaffen ist, "an irgendeinem See zu sitzen und nichts zu tun", und die Arbeit braucht: "Ich habe keinen Bock auf Himmel, ich habe keinen Bock auf Harfe spielen und singen und irgendwo auf einer Wolke herumhocken."

Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum der Krebs für Schlingensief das Ende einer ewig geglaubten Kindheit ist.

Abwehrzauber gegen das Böse in der Welt

Zutiefst kindlich ist der Spieltrieb, der Schlingensiefs Kunstwollen befeuert, und kindlich ist auch die ungeschützte Trauer über sein Schicksal. Der Krebs ist für Schlingensief das Ende einer ewig geglaubten Kindheit. Für Walter Benjamin beginnt das Erwachsenwerden mit der Erfahrung des Kindes, dass es nicht zaubern kann, nicht des einzig wahren Glücks teilhaftig ist, mit den Geistern im Bunde zu sein. Schlingensief schreibt: "Am besten habe ich mich gefühlt, wenn die Geister in Scharen geflogen kamen, ...dann bin ich wohl einfach mitgeflogen." Dieser Zauber ist ein Abwehrzauber gegen das Böse in der Welt, und er zeugt von einer unendlichen Unschuld.

Peinlich ist Schlingensief noch nie etwas gewesen, weil sein Zeigebedürfnis schon je unschuldig war, egal ob er Neonazis und Behinderte auf die Bühne oder Asylanten auf den Wiener Opernplatz holte, ob er aus der geographischen Lage der KZ's ein Quiz macht und seinem Publikum Pornofilme zeigt oder unerträgliche Gewalt, ob er Jürgen Möllemann zuhause auflauerte oder auf der Kasseler Documenta forderte "Tötet Helmut Kohl!". Einen Berufsprovokateur hat man ihn dafür genannt, ein enfant terrible.

Vor der letzten und größten Provokation, der des Sterbens, verliert die Scham ihre letzte Macht, wenn er mit seinen Eltern hadert oder mit seinem Gott, wenn er an Selbstmord denkt und sich eine Wohnzimmer-Guillotine herbeiwünscht oder daran, von Schmerzmitteln stillgestellt, nach Afrika zu fahren. An den Traum, dort ein Opernhaus zu bauen, eine Art Arche als Urzelle einer besseren Welt, glaubt er so inständig wie an ,,meine drei Leute da oben": Maria, Jesus und Gott, "mit diesen dreien möchte ich auf alle Fälle weiterleben."

Ein großes Ringen nach Luft

Es ist gut, dass das Buch den Herzschlag der mündlichen Rede bewahrt hat, die Unmittelbarkeit einer Stimme, die sich mal hysterisch überschlägt, mal verdunkelt, manchmal ganz dünn wird vor Verzweiflung und dann bricht ("Ach, ist das alles eine Scheiße! Ist das alles eine Scheiße!" ), das Schluchzen und Greinen, den Theaterdonner und das Brusttrommeln, das Schwärmen und Schwelgen. Man begreift, dass für Christoph Schlingensief sein Gestaltungsdrang, sein Mittelungsbedürfnis etwas so Ursprüngliches ist wie Einatmen und Ausatmen. Dieses Buch ist deshalb ein großes Ringen nach Luft von einem, der nur noch die halbe Lunge hat und lange fürchten musste, dass man ihm sein wichtigstes Organ, den Stimmbandnerv durchtrennt.

Merkwürdigerweise klingt diese Stimme fröhlich, selbst im größten Jammer; weil sie ansingt gegen den "Selbstüberwachungsstaat", der die Wunden unter "meterdicken Verbänden" versteckt: "Wer seine Wunde zeigt, dessen Seele wird gesund. Denn der Krebs ist weg, aber der Einschnitt bleibt." Schlingensief beschimpft den Krebs als "Dreckskerl" da drinnen. Indem er von seiner Krankheit redet wie über eine Person, ,,erspricht" er sich sein Leben und die Möglichkeit, "im eigenen Bild sterben zu dürfen".

Richard Wagners Teufelsmusik

Im Verlauf der Lektüre wird klar, dass hier das oft so penetrante, enervierende Ich-Sagen zur Voraussetzung dafür wird, von sich selbst abzusehen. Hier spricht nicht mehr der vollautomatische Narziss, der sich entblößt, sondern die Selbstlosigkeit, die sich berührbar macht. Dadurch vollzieht sich eine Schubumkehr. Indem er seine Angst und seinen Schmerz teilt, stellt Schlingensief sie als Ernergieüberschuss zur Verfügung, als Beuys'schen "Wärmekuchen". Und dafür muss man ihn lieben.

2004, als Schlingensief in Bayreuth "Parsifal" inszenierte, fürchtete er, über diese Inszenierung krank zu werden, besessen von der Idee der Krankheit als rauschhafter Entfesselung. Als die histologischen Ergebnisse zeigen, dass der Krebs tatsächlich in der "Parsifal"-Zeit ausgebrochen ist, fühlt sich Christoph Schlingensief bestätigt in seinem Glauben, "dass ich mich von dieser Musik genau auf den Trip habe schicken lassen, den Wagner haben will".

Er habe sich an dieser "Todesmusik" infiziert, "das ist Giftzeugs, was der Wagner da verspritzt har. Das ist Teufelsmusik". Das klingt wie schlimme Genie-Romantik, aber wenn Schlingensief beschreibt, wie er beim Hören der "Tristan"-Ouvertüre daheim von der Musik niedergestreckt wird wie von einem epileptischen Anfall, scheint es, als besitze er tatsächlich keine kulturellen Abwehrkräfte, keinen Bodyguard; durch diese totale Berührbarkeit wird sein Buch zu einem erschütternden Dokument, zu einer großen Künstler-Autobiographie.

Einmal trifft er im Krankenhaus eine besorgte Mutter, deren Kind immer nur auf den Zehenspitzen läuft. Schlingensief tröstet sie, das Kind sei einfach ein hochintelligentes Wesen, ein Autist und ein Genie. ,"Die haben so viel zu denken, dass sie auf dieser Erde nur ganz vorsichtig gehen können." Alexander Kluge spricht aus, was der Leser ohnehin weiß: Christoph Schlingensief selbst ist dieses Kind.

CHRISTOPH SCHLINGENSIEF: So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein! Tagebuch einer Krebserkrankung. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2009. 256 Seiten, 18, 95 Euro.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: