Retrospektive in Düsseldorf:Christo, entfesselt

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Er steht und steht und steht: Den VW-Käfer verhüllte Christo 1961 in Düsseldorf mit einer Persenning und Seilen. Für die Ausstellung wurde das Werk rekreiert.
Er steht und steht und steht: Den VW-Käfer verhüllte Christo 1961 in Düsseldorf mit einer Persenning und Seilen. Für die Ausstellung wurde das Werk rekreiert. (Foto: Christo and Jeanne-Claude Foundation / VG Bild-Kunst, Bonn, 2022/Foto: Wolfgang Volz)

Der Kunstpalast Düsseldorf widmet seine große Herbstausstellung dem Verpackungskünstler und dessen Frau Jeanne-Claude. Die erste posthume Retrospektive überrascht.

Von Alexander Menden

Da ist er, der Reichstag, silbern schimmernd und von Menschen umschwärmt. Die Dimensionen des Originals sind trotz des riesenformatigen Fotos in einem Galerieraum des Düsseldorfer Kunstpalastes nur zu erahnen. Wer damals, im Juni und Juli 1995, nicht dabei war, als Christo und Jeanne-Claude ihren lange gehegten Wunsch in die Tat umsetzten, das Berliner Reichstagsgebäude zu verhüllen, muss sich mit dem farbigen Abglanz zufriedengeben. Diesen Eindruck des Ephemeren verstärken die flankierend im gleichen Raum gezeigten Materialien sogar - die meisterlich gezeichneten Entwürfe, die Stücke des Verpackungsstoffs, die zahlreichen Beispiele der medialen Begleitung des Projekts.

Alle großen öffentlichen Projekte von Christo und seiner Frau Jeanne-Claude waren so: minutiös vorbereitet, spektakulär und dann unwiederbringlich vorbei. Die Dimensionen seiner berühmtesten Projekte, darunter die "Surrounded Islands", die verhüllte Pont Neuf, die "Floating Piers", waren gigantisch. Allein die Zahlen des letztgenannten Projekts lassen einen schwindeln: 220 000 aneinander vertäute Pontons, 195 Anker, alles bezogen mit Kilometern knallgelber Textilbahnen, zogen 2016 rund 1,2 Millionen Menschen an den lombardischen Iseo-See.

Ein Künstler mit selfietauglichem Massenappeal

Es hat bereits andere größere Ausstellungen der Arbeit von Christo und Jeanne-Claude gegeben, zum Beispiel 2001 im Berliner Martin-Gropius-Bau. Die soeben angelaufene Düsseldorfer Schau mit dem Untertitel "Paris. New York. Grenzenlos" ist die erste posthume Retrospektive auf ein abgeschlossenes Œuvre. Christo selbst gab ihr in der Anbahnung vor seinem Tod 2020 sein Placet. Dennoch darf man durchaus zweifeln, ob eine museale Christo-Betrachtung mehr sein kann als ein Kreisen an der archivalischen Peripherie, selbst wenn sie wie der Kunstpalast auf eine so umfassende Sammlung zurückgreift wie die des Ehepaares Ingrid und Thomas Jochheim. Die größte konkrete gezeigte Arbeit ist ein verpackter VW-Käfer - die Rekreation einer Verpackung, die Christo 1961 hier in Düsseldorf mit einem baugleichen Wagen vornahm. Doch die großen Arbeiten können naturgemäß nur in Entwürfen und eben Fotos ausgestellt werden.

Christo und seine Frau Jeanne-Claude vor dem verhüllten Reichstag in Berlin im Jahr 1995.
Christo und seine Frau Jeanne-Claude vor dem verhüllten Reichstag in Berlin im Jahr 1995. (Foto: Christo and Jeanne-Claude Foundation / VG Bild-Kunst, Bonn, 2022/Foto: Wolfgang Volz)

Dass die große Herbstausstellung des Kunstpalastes dann doch mehr hergibt, liegt vor allem an der ernsthaften und überzeugenden kunsthistorischen Kontextualisierung des Pariser Frühwerks, in dem viele Aspekte von Christos späteren Arbeiten bereits angelegt sind und in dem seine Einflüsse deutlich werden. Die akademische Kunstgeschichtsschreibung ist ja nie so recht warm geworden mit dem leptosomen Bulgaren - wohl nicht zuletzt aufgrund seines selfietauglichen Massenappeals, die er selbst stets als Demokratisierung der Kunst verstand und propagierte.

In Düsseldorf wird nachvollziehbar, wie stark Christo Wladimirow Jawaschew, 1935 im bulgarischen Gabrowo als Sohn der Generalsekretärin der Kunstakademie in Sofia und eines Chemieunternehmers geboren, von seinen Zeitgenossen beeinflusst war, vor allem vom Nouveau Réalisme. Im Jahre 1956 über Prag, Wien und Genf nach Paris gekommen, malte er zum Broterwerb Porträts. So lernte er auch seine spätere Frau und gleichberechtigte Partnerin, die marokkanische Offizierstochter Jeanne-Claude kennen. Parallel entwickelte er eine Faszination für Materialien, für die Dreidimensionalität von Gemälden. Neben einem Drip-Painting, das offenkundig von Jackson Pollock beeinflusst ist, ist eine Art Kraterlandschaft auf Leinwand zu sehen. Die Gegenüberstellung mit Arbeiten von Yves Klein und Lucio Fontana mit ihrer Oberflächenmanipulation lässt Christo viel weniger als künstlerischen Solitär erscheinen.

Zugleich beginnt Christo mit ersten Verpackungsobjekten. Der Akt der Verhüllung ist dabei entscheidender als der Gegenstand, sei es die Bild-Zeitung oder ein Fahrrad. 1968, nach dem Umzug des Paares nach New York, wickelte er für das Institute of Contemporary Art eine nackte Frau ein. Der fetischistische Aspekt dieser Praxis wurde wohl nirgends sonst so deutlich. Dass eine kleine Radierung des surrealistischen Super-Fetischisten Hans Bellmer, inkorporiert in eine Tableau-Collage von Daniel Spoerri, gleich nebenan hängt, ist eine subtile, aber erhellende Entscheidung der Kuratoren Kay Heymer und Sophie-Marie Sümmermann.

Mal waren es Flaschen (wie auf dieser Zeichnung auf Karton), mal Gebäude, mal nackte Frauen: Der Akt der Verhüllung ist für Christo entscheidender als der Gegenstand oder die Person.
Mal waren es Flaschen (wie auf dieser Zeichnung auf Karton), mal Gebäude, mal nackte Frauen: Der Akt der Verhüllung ist für Christo entscheidender als der Gegenstand oder die Person. (Foto: Christo and Jeanne-Claude Foundation / VG Bild-Kunst, Bonn, 2022/Foto: Hanna Neander)

Ein Raum ist den diversen Versionen des "Mastaba"-Projektes gewidmet, mit gezeichneten Entwürfen und einem großformatigen Modell. Die Mastaba, ein altägyptischer, sich nach oben verjüngender Grabbau mit rechteckiger Grundfläche, je zwei vertikalen und zwei schrägen Wänden sowie einem abgeflachten Dach, sollte an verschiedenen Orten aus bunten Ölfässern errichtet werden. Auf dem Gelände des niederländischen Kröller-Müller-Museums blieb sie ungebaut, in der Wüste Abu Dhabis gilt sie noch immer als "in Planung" befindlich, auf dem Londoner Serpentine-See wurde sie 2018 mit 7506 Fässern in die Tat umgesetzt. Man erinnert sich, wie Christo damals gemeinsam mit Serpentine-Kurator Hans Ulrich Obrist und dem amerikanischen Milliardär Michael Bloomberg noch rasch auf einer kleinen Barkasse das Objekt umrundete und Bloomberg, ein potenter Geldgeber, prognostizierte, die Installation werde der britischen Hauptstadt touristische Zusatzeinnahmen von rund 150 Millionen Pfund einbringen. Das war weit entfernt von der ersten größeren Ölfass-Arbeit des Künstlers, hier ebenfalls als wandgroßes Foto zu sehen: Im Juni 1962 hatten Christo und seine Frau in einer Art Guerilla-Aktion - auch als Reaktion auf den Berliner Mauerbau - die Pariser Rue Visconti mit 200 Fässern verbarrikadiert, obwohl die städtischen Behörden keine Genehmigung erteilt hatten. Ein kleiner eiserner Vorhang mitten in Paris.

Später wurde der Genehmigungsprozess, der, wie im Fall der Reichstagsverhüllung, schon mal ein knappes Vierteljahrhundert in Anspruch nehmen konnte, für Christo integraler Bestandteil des Projekts. In Düsseldorf ist ein Dokumentarfilm zur Vorgeschichte der Berliner Arbeit zu sehen, unter anderem Aufnahmen eines Besuchs des damaligen SPD-Vorsitzenden und früheren Berliner Bürgermeisters Willy Brandt im New Yorker Atelier von Christo und Jeanne-Claude im Oktober 1981. Unausgesetzt redet Christo auf Brandt ein ("Ich habe in Amerika mehr für den Bekanntheitsgrad des Berliner Reichstags getan als Ihr Botschafter!") und versucht herauszufinden, wie er an Bundestagspräsident Richard Stücklen herankommen kann, damit dieser sich eine Christo-Schau in Köln ansieht.

Überraschende Einblicke in die Genese der Großprojekte

Die Hartnäckigkeit der Lobbyarbeit in dieser kleinen Szene macht besser verständlich, wie es dem Künstler immer wieder gelang, seine Pläne in die Tat umzusetzen. Die Interpretation der vollendeten Umsetzung überließ er dann gerne den Besuchern und sagte lediglich Sachen wie: "Jede Interpretation ist legitim, positiv oder kritisch. Es soll zum Denken anregen. Das Denken macht uns zu Menschen!"

Auch wenn die Ereignishaftigkeit der großen Verhüllungsprojekte in Düsseldorf sehr deutlich wird - man war dabei, oder man hat sie verpasst -, erhält man im Kunstpalast einige überraschende Einblicke in ihre Genese. Gerade der ortsspezifische und flüchtige Charakter kurzzeitig modifizierter Monumente und Landschaften, die es Menschen gestatteten, sie neu in Besitz zu nehmen, unterstreicht die genuin egalitäre Grundhaltung von Christo und Jeanne-Claude. Es ging ihnen tatsächlich um das, worum sich heute so viele Institutionen angeblich bemühen: um Teilhabe.

"Christo und Jeanne-Claude - Paris, New York, Grenzenlos" im Kunstpalast Düsseldorf, bis 22. Januar 2023. kunstpalast.de; Katalog 38 Euro.

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