Süddeutsche Zeitung

Christine Wunnicke: "Selig & Boggs":Rettung der Bananenschale

Christine Wunnickes herrlicher Roman über die Kindertage des Hollywoodfilms und seine skurrilen Pioniere ist wieder da: "Selig & Boggs".

Von Hubert Winkels

Was haben eine Filmkamera und eine Wurstmaschine gemeinsam? Als der Filmproduzenten William Selig Anfang des 20. Jahrhunderts den größten Schlachthof Chicagos besucht, rennt ein besudelter junger Mann in Schlachterschürze hinter ihm her und fleht ihn an, mit seiner Kamera die Arbeit der Wurstmaschine aufzunehmen: Keine Werbung für den Schlachtbetrieb Armour, sondern mit dem neuen Medium Lichtspiel bitte aufklären über die Produktion der Armour-Würste! Ihr Geheimrezept: "Man nehme das, was auf der Kehrschaufel ist, inklusive Spucke und Sägespänen, ver­knete es mit Knorpel, Knochenmehl und der Wurst vom letzten Jahr, rühre Borax und Glyzerin hinein und schiebe es durch die Maschine. Samt Ratten und Rattengift und was sonst noch in den Trichter gefal­len ist. Zum Beispiel die Haut von den Händen der Männer aus der Pökelhalle. Die geht in der Salzlake nämlich ab. Ach - und wussten Sie, dass tuberkulöse Rinder schneller fett werden?"

"Nein", antwortet Selig im Roman "Selig & Boggs" von Christine Wunnicke, der in einer besonders eleganten Neuausgabe jetzt wieder zu lesen ist. "Das Lichtspiel ist der Volksaufklärer der Zukunft!", sagt der Mann hoffnungsvoll: ",Oh', sagte Selig."

In dem jungen Schlachter kann man Upton Sinclair wiedererkennen, dessen frühe antikapitalistisch-apokalyptische Schweinevision in dem Roman "Der Dschungel" landete. Das neue Medium Film hingegen operierte ähnlich wie die Wurstmaschine. Er schluckte allen Abfall, der sonst keinen kulturellen oder gesellschaftlichen Sinn ergab. William Nicholas Selig war bereits in den 1890er Jahren durch den amerikanischen Süden getingelt und hatte sich vom Hausmechaniker über einen Wunderheiler zum Salonmagier hochgearbeitet. Dann tourte er mit seiner eigenen Minstrelshow über Jahrmärkte, Völkerschauen, durch Theater und Bordelle, bis er eines Tages selbst verzaubert wurde: bei der Betrachtung der ruckelnden Bewegungen von Fotografien in einem Mahagonischrank, Nickelodeon genannt. Selig wurde zum Pionier der amerikanischen Filmproduktion.

Alles wird Film, was sich an Pappsäulen lehnt oder auf Schmierseife ausrutscht

Wie immer in Christine Wunnickes grotesken historischen Kurzromanen lauert ein zweites Original als verzerrte Kopie des ersten in der nächsten Plotfalte: Wir erleben den Spielleiter Francis Boggs gleich mitten in der Arbeit. Die besteht wesentlich darin "Halt, halt halt" und "Aufnahme stop" zu schreien, weil wieder einmal eine dunkle Wolke die Szene löscht, zumindest für die Kamera, die immer in maximaler Nähe zum Objekt herumgetragen wird.

Das kann der klugen Autorin nicht passieren, auch wenn sie ebenso von Nahaufnahme zu Nahaufnahme springt, mit aberwitzig frechen Schnitten. Doch auch Boggs weiß sich, und damit der Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts, auf die Sprünge zu helfen, indem er mit Kurbelkamera und künstlichen Bärten nach Kalifornien zieht unter die ewige Sonne.

Hier wie dort und unterwegs nach Westen wird alles zu Film, was steht, geht und fällt, was einen Hut, eine Toga oder eine Cowboyweste tragen kann, was sich an Pappsäulen lehnt oder auf Schmierseife ausrutscht. Auf jeden Fall ist der zum Film kompostierte Abfall des Tages und seiner Träume der krummen Bananenschale näher als dem aufrechten Gang der Aufklärung. Das scheint zunächst auch für die irrlichternde, anarchisch Szenen und Anekdoten verschränkende Autorin zu gelten. Doch weit gefehlt. Nicht nur ist Christine Wunnicke jederzeit Herrin ihres exakt recherchierten und komponierten historischen Materials, sie folgt dramaturgisch der episodisch konkreten Struktur des frühen Films, der in der Regel nur wenige Minuten dauerte. Ein bis zwei Filme wurden mit drei, vier Personen am Tag gedreht. Analog bestünde "Selig & Boggs" aus vierzehn Kurzfilmen.

Mehr noch, sie schafft es, die medientechnische Revolution des Films locker mit der sprachphilosophischen Frage nach der Natur des Bildzeichens zu verknüpfen. "Seligs Polyscope", der Startpunkt Hollywoods, liegt eben nicht im Stechpalmenwald, sondern im Stadtteil Edendale. Das Paradies, in dem biblisch die Dinge und ihre Namen zusammenfallen, wird immer wieder beschworen. Was leistet die "Errettung der äußeren Wirklichkeit" (Siegfried Kracauer) im Film für die Annäherung von Bildzeichen und Ding? Hundertzwanzig Jahre und eine Medienrevolution weiter begegnen wir hier einer der klügsten und attraktivsten Formulierungen dieser anthropologischen Frage.

Die Tiere spielen eine wichtige Rolle. Selig liebt sie alle. Er geht mit einem Schimpansen auf den Balkon, um mit ihm zu rauchen. Er hat fünf Elefanten, zwei Giraffen, sieben Bären, sechs Elche, vier Kängurus, zwei Yaks, neunundvierzig Affen, Vögel. Und die Polyscope liegt mitten im Paradies, im Tiergarten, der später zum Kern des Zoos von Los Angeles wird.

Zuhause lebt Selig mit viel geküssten Leoparden und einem Löwen namens Jackie, der ihm zart und feucht die Handknöchel bekaut. Wir kennen ihn alle. Alt und pomadig geworden hat Jackie vor der eigens eingerichteten Kamera zweimal schwach gebrüllt: das Signet von Metro Goldwyn Meyer. Da war Selig schon pleite und weitgehend vergessen. Er hatte es einfach nicht für möglich gehalten, dass Filme länger als eine halbe Stunde dauern. Dass D. W. Griffith mit seinem mehrstündigen Historiendrama "Intolerance" gleich nebenan einen Riesenerfolg feierte, das ist bereits eine andere Geschichte. Wunnickes "Selig & Boggs" verhält sich zu ihr wie Prä- und Parahistorie zur sinnstiftenden Großgeschichte.

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