Christina Aguilera:Was mich so viel weiser macht

Christina Aguilera spielt in "Burlesque", ihrem ersten Kinofilm, ein Mädchen, das vom Land in die große Stadt flieht. Ein Gespräch über Tagebücher am Set, die Tiefpunkte des Lebens und Wiegenlieder.

Patrick Roth

Burlesque, das heißt schwankhaft, derb, grotesk, aber es meint auch ein amerikanisches Genre, die Kunst des Vaudeville, des Cabaret, wie sie groß geworden ist in den Roaring Twenties. Exemplarisch dafür ist immer noch der Film "Cabaret" mit Liza Minnelli, und ungeniert haben auch Christina Aguilera und ihr Team sich einiges abgeschaut bei Sally Bowles und ihrem frechen Hut. Aguilera ist in "Burlesque" ein Mädel, das aus der heimatlichen Provinz flieht und nun einen neuen Platz suchen muss in der großen Stadt. Sich selber finden in der Performance, ein Identitätstrip auf der Showbühne, das ist ein alter amerikanischer Traum. Exhibitionismus und Keuschheit, akzeptiert werden, indem man sich öffnet und entäußert. Eine neue Familie nimmt sie auf, die nicht die Stigmata, die Traumata der gesellschaftlichen Familien trägt. Eine Bühnenfamilie, ein Team, wo Professionalismus das höchste Glück ist. In diesen Momenten funktioniert "Burlesque" am besten, wenn die Co-Stars Cher und Stanley Tucci Aguilera sanft führen.

Christina Aguilera: ´Ich bin ein Show-Mensch"

"Auch ich war letztlich - was diesen ersten Spielfilm anging - so naiv, so grün, so unschuldig wie Alice, die gleichsam durchs Kaninchenloch hinab ins Wunderland fällt": Christina Aguilera hat schon viele Musikvideos gedreht - nun zum ersten Mal einen Film fürs Kino.

(Foto: dpa)

SZ: "Burlesque" ist Ihr erster Spielfilm. Wie groß war der Schritt von den MTV-Musicclips zum dramatischen Medium?

Christina Aguilera: Er war gewaltig - für mich jedenfalls. Ich bin heute nicht mehr die Frau, die ich vor zwei, drei Jahren war, als wir mit den Arbeiten am Film begannen. Natürlich habe ich auch hier wieder meine eigenen Songs geschrieben. Aber die Einstellung, mit der ich an diesen Film herangehen musste, unterscheidet sich von allem Bisherigen. Sie erinnern sich an die Einstellung, als ich das Varieté zum ersten Mal betrete?

SZ: Sie steigen eine Wendeltreppe herab ...

Aguilera: Genau. Diese Einstellung war quasi Programm - nicht nur für Ali, die junge Frau mit den großen Hoffnungen, die ich spiele. Auch ich war letztlich - was diesen ersten Spielfilm anging - so naiv, so grün, so unschuldig wie Alice oder Ali, die gleichsam durchs Kaninchenloch hinab ins Wunderland fällt.

SZ: Kaum zu glauben - übertreiben Sie jetzt? Sie waren es doch von Ihren Videos her gewohnt, vor der Kamera zu stehen.

Aguilera: Nein, die Umstellung war enorm. In meiner Musik muss ich, will ich, kann ich nur immer mich selbst darstellen. Da befreie ich die Exhibitionistin in mir. Im Lied - auf der Bühne zumal - wird der Ausdruck ganz leicht. Da mache ich etwas, das mir gleichsam auf die Haut geschrieben ist: Ich war sechs, als ich zum ersten Mal auftrat. Sobald man mich von der Bühne holt, mir das Mikrofon stiehlt, mich daran hindert, meinen Gefühlen durch Musik Ausdruck zu geben, bin ich schutzlos und verwundbar. Diese Ali zu spielen - diese konkrete junge Frau mit ihrer Vergangenheit -, war eine enorme Herausforderung. Ich musste ganz im Hintergrund verschwinden, um sie entstehen zu lassen.

SZ: Andererseits haben Sie doch sicher auf Ihre eigenen Erfahrungen im Musik-Business zurückgegriffen. Ali kommt aus einer Kleinstadt in Iowa, Christina Aguilera kommt aus einer Kleinstadt in Pennsylvania. Beide kommen nach Los Angeles, beide sehnen sich nach dem großen Auftritt als Sängerin, lassen sich von Rückschlägen nicht entmutigen.

Aguilera: Sie haben recht. Es gibt hier natürlich zig Schnittpunkte. Das entscheidende Problem war eher, diesen Gemeinsamkeiten dann schauspielerisch Ausdruck zu geben - so authentisch wie möglich. Nicht durch den Song - nicht ausschließlich jedenfalls.

SZ: Nahmen Sie Schauspielunterricht vor Beginn der Dreharbeiten?

Aguilera: Nein. Steve Antin, mein Regisseur, wollte auch keinen Schauspiellehrer auf dem Set. Und ich verstand, warum. Es ist ja gerade die eigene Unsicherheit, meine Verwundbarkeit selbst, die mir zum Vorteil werden können. Ich wollte wirkliche Tränen für Ali, kein Glyzerin. So naiv war ich - so grün-ambitioniert, könnte man sagen. Denn wenn Sie eine Heulszene zigmal aus verschiedenen Winkeln wiederholen müssen, dabei jedes Mal nach diesem Tiefstpunkt graben müssen, vergehen Ihnen die Tränen erst mal. Dann die ständigen Unterbrechungen, weil der Kameramann ein neues Magazin laden muss oder sonst irgendwas schiefgeht. Und trotz des tagesüblichen Chaos auf dem Set durfte ich die Konzentration auf diese Person nicht verlieren. Ich verbot mir zum Beispiel, Tagebuch zu schreiben - was ich sonst ständig mache. Ich schreibe nebenher immer wieder neue Songs auf, Ideen für neue Texte. Diesmal nicht - ich wollte mir dieses Ventil einfach nicht gönnen, weil Ali es auch nicht hat. Ich sage Ihnen: am Ende der Dreharbeiten war ich drauf und dran, verrückt zu werden. Ich bin eben noch keine Profi-Schauspielerin, die das besser wegsteckt.

SZ: Gibt es denn Vorbilder, die Sie unter den "Profis" haben?

Aguilera: Vielleicht sind es gerade die, denen das Profitum letztlich bewusst abgeht. Die irgendwie verwundbar geblieben sind. Anders kann ich mir Vorbilder wie Cate Blanchett oder Kate Winslet nicht erklären. Oder Angelina Jolie - in "Girl Interrupted" zum Beispiel. War das noch "gespielt"? So eine Leistung - dieser Realismus in ihrem Spiel, den bewundere ich endlos.

"Ich weiß nicht, was ich preisgeben darf"

SZ: Wovon reden wir denn, wenn Sie von Tiefpunkten sprechen, auf die Sie während der Dreharbeiten zurückgriffen, um Ali spielen zu können? Von Ihrer Kindheit?

Aguilera: Mein Vater war Berufssoldat, wir zogen, als ich klein war, ständig umher. "Stabilität" gab es nicht, kein richtiges Zuhause. Er hat meine Mutter und mich wiederholt misshandelt und verließ uns dann, ich war sieben. Meine Mutter zögerte, sich von ihm zu trennen, weil sie finanziell überhaupt nicht abgesichert war. Ich schwor mir, mit einem Mann nie in eine solche Abhängigkeit zu geraten. So eine Kindheit, wie ich sie durchgestanden habe, die frisst dich entweder auf, du gehst unter ... - oder sie verleiht dir ungeahnte Kräfte. Deine Konzentration völlig auf eine Sache fokussieren zu können - mitten im Chaos. Letzteres war bei mir der Fall. Ich wollte auftreten, wollte singen. Ich wusste instinktiv: Da liegt die Rettung für mich. Aber wissen Sie, was das heißt, mit acht Jahren professionell aufzutreten? Immer wieder wird man ausgenutzt, wird runtergemacht, weggeworfen. Mein Instinkt für Schutz, für Sicherheit ist daher auch ständig wach. Die schauspielerische Leistung aber - genau da liegt meine Aufgabe - muss diese Wand durchbrechen.

SZ: Konnte Steve Antin, Ihr Regisseur, Ihnen dabei helfen?

Aguilera: Sicherlich. Ihm habe ich total vertraut. Unglaublich hilfreich war aber vor allem meine Kollegin Cher. Damit hatte ich überhaupt nicht gerechnet. Mit Beendigung der Dreharbeiten graduierte ich sozusagen vom Cher-College- of-Acting-and-Living. Cher war die beste Lehrerin, die besten Freundin, die ich auf dem Set hätte haben können. Sie nennt die Dinge beim Namen - ihre Kritik ist immer konstruktiv. Cher baut dich auf. Sie lügt nicht, sie blufft nicht. Gleichzeitig war sie die beste Geschichtenerzählerin - und nichts davon war erfunden. Ich hab das alles aufgesogen wie ein Schwamm - ich dachte: Egal was mit diesem Film geschieht, Cher wird mir niemand nehmen können.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, was Christina Aguilera und Cher verbindet.

SZ: Geben Sie mir doch ein Beispiel für so eine Cher-Geschichte.

Aguilera: Jetzt muss ich überlegen. Ich weiß einfach nicht, was ich preisgeben darf. Wie gesagt: Es war alles so hilfreich, weil es völlig unbeschönigt rüberkam. Auch das Dunkle, das Peinliche. Sie erzählte mir zum Beispiel von der Vorführung eines Films, in die sie sich geschlichen hatte. Sie saß in der hintersten Reihe, unbemerkt. Das war zu einer Zeit, als sie den Sprung vom Fernsehen zum Film machen wollte - muss einer ihrer ersten Filme gewesen sein. Die Schauspielernamen erschienen auf der Leinwand, manchmal hörte sie jemanden klatschen. Dann erschien Chers Name auf der Leinwand. Gelächter. Und sie hört es - am Boden zerstört, mit gebrochenem Herzen. Ich meine: Dass sie so einen Moment der Unsicherheit und Demütigung überhaupt mit mir teilen würde, was ist das? Ich habe den größten Respekt für Sie.

SZ: In Ihrem Titellied "Burlesque" gibt es eine Stelle, die mich an Takte aus Ihrem Song "Fighter" erinnerte. In "Fighter" sangen Sie, stimmlich-melodisch ganz ähnlich: "Makes me that much stronger / Makes me work a little bit harder / Makes me that much wiser." Ist so eine Stelle als Zitat zu verstehen?

Aguilera: Sicherlich war's kein bewusstes Zitat. Aber es ist ja mein Song. Und bei Ali geht's ja - gerade was diese Zeilen betrifft - um durchaus Vergleichbares. Ich meine: Zu einer "Kämpferin" musste ich schon in meiner Kindheit werden. In Wexford, wo ich aufwuchs, hatte niemand was übrig für gesangsbegabte Kinder. Kunst und Unterhaltung - dafür hatte niemand was übrig. Umgekehrt hatte ich als Mädchen kaum Zeit für Jungs. Eine "boy-crazy"-Phase hatte ich nie. Auch Drogen haben mich nie interessiert. Ich hatte das große Glück, über "Star Search" - das war eine Talentshow der frühen achtziger und neunziger Jahre - meine erste Chance umsetzen zu können und dann in "The Mickey Mouse Club" als "Mousketeer" neben Britney (Spears) und Justin (Timberlake) aufzutreten. Ich war total zielbesessen: mich über meine Stimme, über mein kreatives Talent selbst zu verwirklichen. Genau diesen Drive möchte ich auch meinem zweijährigen Sohn weitergeben, wenn so etwas überhaupt möglich ist. Max wurde vor Beginn der Arbeit an "Burlesque" geboren, kann inzwischen reden - und singen! - und überredet mich immer wieder dazu, ihm das Gutenachtlied vorzusingen. Im Übrigen: Es geht nicht um das Talent, das weitervermittelt werden soll. Sondern darum, dass er sieht: wie wichtig es ist, es sich zu bewahren. Dem eigenen kreativen Ausdruck nachzuspüren, ihn geduldig zu entwickeln, zu verfeinern. Das ist kein Luxus, sondern eine Sache des Überlebens.

SZ: Das Gutenachtlied ... - was hört Max denn da, wenn Sie ihm vorsingen?

Aguilera: Es ist das schönste Wiegenlied, das ich kenne - wirkt garantiert. Es stammt aus "Mary Poppins" und trägt den verrückten Titel: "Stay Awake".

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