Süddeutsche Zeitung

Salzburger Festspiele:Zartes Staunen vor dem Schlachtross

Christian Thielemann dirigiert in Salzburg die Wiener Philharmoniker. Und begeistert mit der Siebten von Bruckner.

Von Helmut Mauró

Sie sind nicht ganz so düster wie seine Kindertotenlieder, aber auch die "Fünf Lieder nach Gedichten von Friedrich Rückert" hat Gustav Mahler in einen Ton gesetzt, der die Wehmut über mögliche Verluste und den vielleicht gar nicht so eskapistischen Weltschmerz zelebriert. Im Großen Festspielhaus von Salzburg singt die lettische Mezzosopranistin Elīna Garanča vom Lindenduft und von der Liebe um der Schönheit willen, die Wiener Philharmoniker begleiten unter Leitung von Christian Thielemann, und doch bleibt alles verhalten, fast ein bisschen spröde. Gedämpfte Sinnenfreuden, Klangrauschverweigerung. Garanča setzt auf eine stabile, kraftvolle Stimmführung, die durchaus ein paar Zwischenebenen vertragen könnte, um das Unsichere, Vorsichtige, die allgemeine Verunsicherung in den Rückert-Liedern herauszustellen. Im letzten Lied allerdings, im großen Abgesang "Ich bin der Welt abhanden gekommen", tritt dann doch noch weitgehend ein, was man zuvor herbeigewünscht hatte: das ferne fahle Licht in der allmählich zergehenden, beinahe zerbrechenden Stimme, die im Orchester fein abgestuften Grautöne. Dirigent Christian Thielemann führte alles bezwingend zusammen.

Die in vieler Hinsicht große siebte Sinfonie von Anton Bruckner erscheint oft als publikumswirksamer Selbstläufer - und ist es dann doch nicht. Für den Komponisten war es der Durchbruch und bis heute ist es - sicherlich für jeden Musikliebhaber nachvollziehbar - die beliebteste aller Bruckner-Sinfonien. Der Dirigent Arthur Nikisch hat großen Anteil daran, er ließ sich 1884 in Leipzig von zwei Pianisten, die die Sinfonie als Klavierversion bereits in Wien erfolglos darboten, von der symphonischen Wucht und kompositorischen Kühnheit des Werkes begeistern und zur Uraufführung hinreißen. Der Erfolg in Leipzig und mehr noch im folgenden Jahr in München unter Hermann Levi überwältigte den Komponisten, und anders als bei seinen vorhergehenden Sinfonien verzichtete er weitgehend auf Änderungen und Umarbeitungen. Ganz konnte er aber davon nicht lassen, es gab kleinere Tempomodifikationen, Instrumentationsretuschen.

Warum ist das wichtig? Weil im Adagio, das wie kein anderer Satz dieser Sinfonie für das Genie Bruckners steht, für seinen Klangsinn, für sein Gefühl musikalischer Dramatik, weil hier die Klimax plötzlich mit Becken und Pauke aufgemotzt wird, als hätte es dieses Winkes mit dem Zaunpfahl bedurft, um den Hörer auf die Besonderheit dieser Stelle aufmerksam zu machen. Arthur Nikisch hatte ihm diese Ergänzung nahegelegt. Heute kommt einem die Klangfülle mitunter etwas übertrieben vor und ist zur Herausforderung für den Dirigenten geworden. Christian Thielemann hat sie tapfer angenommen - und glänzend bewältigt. Denn es geht nun - vor 150 Jahren mag das anders gewesen sein - nicht mehr darum, den opulenten Orchesterklang, die dröhnende Bläserbatterie um jeden Preis durch Pauken und Tsching­de­ras­sabum ins Extrem zu treiben, sondern den sozusagen verschärften Höhepunkt dramatisch glaubhaft zu machen.

Melodiefetzen werden zu Preziosen, die es umsichtig zu hegen gilt wie begabte Kinder

Und hier zeigt sich Thielemann in der Tat als Meister großformatiger Gestaltung. Indem er sich gerade nicht von Höhepunkt zu Höhepunkt hangelt, sondern sich auf Details konzentriert und jedem Anfangsmotiv, jeder strukturell noch formlosen Stammzelle, aus der sich etwa im Kopfsatz aber auch im Finale vieles, wenn nicht alles Weitere entwickelt, größtmöglichen Raum lässt, sich eigenständig zu entfalten. Da erscheinen üblicherweise eher flüchtig hingeworfene Melodiefetzen auf einmal als singuläre Preziosen, die es umsichtig zu hegen gilt wie begabte Kinder. In dieser Schönheit des Augenblicks verführt Thielemann unversehens auch den Hörer zu dieser unvoreingenommenen, erwartungsarmen Sichtweise, zu kindlichem Staunen, das dann jede noch so geringe Steigerung in Klang, Instrumentation, Dynamik, Tempo und melodischer Progression als ungeheure Verdichtung wahrnimmt.

Das fällt erst einmal gar nicht besonders auf, man freut sich über Petitessen, während sich die Trompeten in Position werfen, man hört melodischen Nebenstraßen nach, lässt sich in verwunschene Sackgassen führen, während der breite symphonische Strom gleichsam unterirdisch weiter drängt. Erst wenn er wieder zutage tritt, wenn die großen Höhepunkte hereinbrechen als brachiale Klanggewitter, erst dann erscheinen all die Zwischenmotive und aufgefächerten Ebenen eingebunden in einen unerbittlichen Mahlstrom.

In dieser Art erarbeitete Thielemann, gleichsam mit Orchester und Publikum gemeinsam, dieses symphonische Schlachtross, das oft lärmend einherpoltert, zu einem noch immer klangvoluminösen, aber doch viel feingliedrigerem Monstrum, das seine Kraft nicht nur aus schierer Klangfülle, aus lautstarken Bläsergruppen und Heerscharen gleichmarschierender Streicher zieht. Obgleich es immer wieder fasziniert, wie die Wiener Streicher mit einem Bogen, mit einem Atemzug, mit einer Stimme sprechen. Das hat seine besondere Wirkung, das ist ein starkes Wort inmitten dieser symphonischen Kathedrale. Das Festspielpublikum machte seiner Begeisterung in frenetischen Ovationen Luft.

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