Christian Schultz-Gerstein: "Rasende Mitläufer":Seine Spezialität war der lodernde Verriss

Christian Schultz-Gerstein: "Rasende Mitläufer": Kalkuliertes Rasen gegen den Opportunismus: Christian Schultz-Gerstein.

Kalkuliertes Rasen gegen den Opportunismus: Christian Schultz-Gerstein.

(Foto: Edition Tiamat/Edition Tiamat)

Einseitig und grob war der Kritiker und Essayist Christian Schultz-Gerstein - und dabei doch hellsichtig wie wenige.

Von Willi Winkler

Der Kritiker Hellmuth Karasek wusste bei Gelegenheit beredt Klage darüber zu führen, dass Deutschlands schlechtester Kritiker - er meinte Marcel Reich-Ranicki -, auch der bekannteste sei. Das war, als sie beide im Literarischen Quartett darum wetteiferten, wer schneller den Daumen über ein Buch heben oder senken konnte. Ob das noch Literaturkritik oder schon auf dem besten Weg zu Twitter war, muss die Forschung entscheiden, es herrschte jedenfalls ein prima Klima im Literaturbetrieb damals.

Dominiert wurde dieser Betrieb vom ebenso genialen wie gschaftlhuberischen Verpackungskünstler Siegfried Unseld, dessen halbjährliche Suhrkamp-Spitzentitel brav von der FAZ, SZ, Rundschau und Zeit besprochen wurden. Nur der Spiegel hatte selten Platz für Literatur und kam fast immer zu spät, dafür krachte es aber manchmal: "In keiner anderen Inszenierung des Literaturbetriebs spielen Literaturkritiker derart ungeschminkt ihre Haupt- und Lieblingsrolle: die Rolle des Zuhälters, der auf eigene Rechnung die Schriftsteller dichten lässt, und der, wenn sie nicht wollen, zur Not auch nachzuhelfen weiß."

Nicht bloß scheitern, sondern untergehen

Das beobachtete, das schrieb Christian Schultz-Gerstein, der ein echter Kritiker war und deshalb mit einer gewissen Konsequenz nicht bloß scheiterte, sondern unterging. Beim Spiegel war er als Verreißer beschäftigt und genoss den Zuspruch des Herausgebers Rudolf Augstein. Der hielt auch zu ihm, als sich fast der gesamte Betrieb darüber empörte, dass Schultz-Gerstein Reich-Ranicki mit einer Hochhuth-Anleihe als "furchtbaren Kunst-Richter" titulierte.

Gerstein war der Name seiner Mutter, Gerstein hieß der SS-Mann, der die geistliche Obrigkeit über den Einsatz von Zyklon B informieren wollte. Der Vater wäre beinah Senatspräsident geworden in Hamburg, wenn nicht der Stern bekannt gemacht hätte, dass einige Opfer seiner Urteile im KZ starben. Dieser Vater, der kein Nazi war, redete sich auf "Gesetzespositivismus" hinaus, für den Sohn war das bestenfalls gefilbingert: Was damals rechtens war, kann heute nicht Unrecht sein. Übertrieben oder nicht, Schultz-Gerstein erkannte sich in Bernward Vesper wieder: der Sohn eines Nazi-Dichters, von dem er auch nicht loskam, als er sich in die Revolte der Sechzigerjahre stürzte und dann drogenbefeuert in der Psychiatrie landete und 1971 starb.

Christian Schultz-Gerstein: "Rasende Mitläufer": Christian Schultz-Gerstein: Rasende Mitläufer, kritische Opportunisten. Porträts, Essays, Reportagen, Glossen. Edition Tiamat, Berlin 2021. 448 Seiten, 26 Euro.

Christian Schultz-Gerstein: Rasende Mitläufer, kritische Opportunisten. Porträts, Essays, Reportagen, Glossen. Edition Tiamat, Berlin 2021. 448 Seiten, 26 Euro.

Im Jahr davor fing der 25-jährige Schultz-Gerstein bei der Zeit an, weil, so schreibt er es in einer Selbstergründung, "ich nicht mehr wusste, wie es mit mir weitergehen sollte". Die nach dem Staatsexamen vorgezeichnete Laufbahn "Lehrer, Pension, Tod" war wenig verlockend. Wie nicht anders zu erwarten, wurde er auch bei der Zeit nicht glücklich, sondern glaubte sich bald in einem Gefängnis und zog weiter ins nächste, zum Spiegel.

Schultz-Gersteins Spezialität war der lodernde Verriss. Der Band "Rasende Mitläufer, kritische Opportunisten", den Klaus Bittermann jetzt in seinem Verlag Edition Tiamat erweitert und benachwortet neu herausgebracht hat, reicht weit in die Siebziger und Achtziger zurück. Er bildet die Diskussionen aus der Frühzeit der Grünen ab, die Demonstrationen gegen die Nachrüstung, das Waldsterben, die Frauenbewegung um Alice Schwarzers Emma, während die Konservativen eine "Tendenzwende" gegen den vermeintlich sozialdemokratischen Zeitgeist herbeibeten.

Die Frage, ob noch arg viel Hähne nach Peter Schneiders "Lenz" krähen oder Hans Christoph Buchs "Gorlebener Tagebuch" ("Bestnote in kritischem Zeitgeist") aufblättern, sei der bereits erwähnten Forschung überlassen. Verblüffend aber ist doch, wie genau Schultz-Gerstein schon vor 40 Jahren das Herrenreitertum von Botho Strauß bloßlegte, als der zum Beifall fast des gesamten Feuilletons das "herunterdemokratisierte formlose Gesellschaftsbewusstsein" der Gegenwart beklagte, die er von "fetten Autopflegern" und "teilnahmslosen Fernsehbürgern" bevölkert sah. Schultz-Gerstein schimpfte Strauß 1982 einen "geistig neureichen Kulturspießer", dessen "Dörrzeug aus dem humanistischen Herbarium bei Hans Carossa und in jeder Morgenandacht genauso gut zu haben" sei. Frischer geworden ist die Ware seither nicht.

Grass kam ihm "fast so menschlich wie Marika Rökk" vor

Einseitig und grob war Schultz-Gerstein, dabei hellsichtig wie keiner, als er schon 1983 im Wunderkind Rainald Goetz den "rasenden Mitläufer" beobachtete. Manches Stück in diesem dicken Band, den aufgeklärte Eltern ihren Kindern statt einer Literaturgeschichte neben das Keyboard legen werden, ist ganz und gar versunkenes Kulturgut: die Vermarktung der wort- und buchspeienden Marianne Fritz, das Mitleid mit der nicht weniger geschäftstüchtig vermarkteten und noch trauriger aus dem Betrieb verschwundenen Karin Struck, der spätere Grass, der dem Kritiker "fast so menschlich wie Marika Rökk" vorkommt. Doch in Peter Sloterdijk schon 1983 den "philosophierenden Busengreifer" zu erkennen, 33 Jahre vor dessen intellektuellem Zotikon "Das Schelling-Projekt", deutet auf divinatorische Fähigkeiten.

In seinem kalkulierten Rasen gegen den Opportunismus gelangen dem Kritiker beneidenswerte Formulierungen, wenn er etwa dem keineswegs immer schon heiligen Heiner Geißler Äußerungen "im Brustton ignoranter Almosentoleranz" gegen Hausbesetzer vorhält oder dem aus der DDR ausgestoßenen Wolf Biermann, dass er "Gesinnungslyrik zum Mitklatschen" herstelle. Ein lehrerhafter "Draufgänger" sei er, "der es mit Strauß genauso aufnimmt wie mit der ungezogenen Atomkraft, der er tüchtig den Hintern versohlt, oder dem Faschismus, dem er die Ohren langzieht". Reich-Ranicki knöpft er sich in einer Abrechnung mit dem jahrzehntelang von der Ankündigung eines neuen Romans lebenden Wolfgang Koeppen ein weiteres Mal vor: "Dieses Kriterium, das den Rang eines Schriftstellers daraus ableitet, dass er nichts schreibt, ist nicht etwa, wie man meinen sollte, dem Gelächter des Literaturbetriebs anheimgefallen, sondern gehört zum festen Repertoire der Koeppen-Verehrung."

Schultz-Gerstein hatte kein Talent zur Verehrung. Bei ihm durfte das Große nicht groß und das Kleine nicht klein bleiben. So konnte er den Vielschreiber Gerhard Zwerenz, der es "für eine achtbare schriftstellerische Leistung hält, beim Leser eine Erektion zu erzielen", gegen den aufs Höchstgeachtete schweigenden Koeppen ausspielen.

Vielen gilt er als unvollendet, aber er vollendete sein Leben mit einem großen Text

Es gibt heute keinen Schultz-Gerstein mehr, so wie es auch keine Auseinandersetzung um Recht und Unrecht im Kunstrichtertum mehr gibt. Botho Strauß kann schreiben, was er will, es regt keinen mehr auf. Werkstattbesuche und freundschaftliche Interviews sind einfach näher am Menschen als die Rezension, eine strenge womöglich. Dass dafür mittelmäßige Saisonsensationen gefeiert werden, steht auf einem anderen Blatt.

Sehr viel weniger bekannt als Schultz-Gersteins Freude am Verreißen ist seine Begabung zum Selbstzweifel. Unter dem Begriff "Doppelkopf" reflektierte er sein Schreiben und muss sich eingestehen, dass er es der Zeitung anpasst, in diesem Fall der Zeit. Zu seinem eigenen Erstaunen schreibt er Sätze, die er gar nicht schreiben wollte, weil er sich, freiwillig oder nicht, dem Medium anpasst, das zwar nicht gleich die Botschaft liefert, aber die Sprache präformiert: "Ich kann schwören, dass ich, ehe ich für die Zeit zu schreiben anfing, Wörter wie 'freilich' und ,indes', die ich heute gar nicht mehr spüre, nie benutzt habe."

Auch Schultz-Gerstein hat die Dichter in ihren Landen aufgesucht, hat mit Peter Handke Fußball geschaut und mit Peter Schneider Wein getrunken, sie aber dann wie verloren gegangene Idole kritisiert, seine Brüder. Jean Améry suchte er wie ein Orakel auf, das ihm weiterhelfen sollte, klagte ihm sein Leid als Kritiker und behauptete, im Sommer zum Ausgleich als Tennislehrer zu arbeiten. "Könnte ich nicht aushalten, das ganze Jahr zu schreiben." Natürlich ist auch das eine home story, Améry hat ein Buch geschrieben, für das er Aufmerksamkeit erhofft, doch Schultz-Gerstein schreibt weder dem Autor noch dem Publikum zulieb, sondern gibt zu, dass ihn während des Interviews zeitweilig die Übertragung des Wimbledon-Finales mehr interessiert als der Mann, der von der SS gefoltert worden war. Weil er aber auch das nicht verschweigt, erfährt er im freien Gespräch mit Améry, "was das ist, im Konzentrationslager gewesen zu sein und das Dritte Reich 'miterlebt' zu haben, wie in Deutschland die Väter sich gegenüber ihren Söhnen rühmten".

Christian Schultz-Gerstein hatte kein Interesse an der Tagesproduktion und auch nicht am Literaturbetrieb, zu dem er auf seine Roth-Händle-umwölkte Art doch gehörte. Nachdem er sich mit Augstein überworfen hatte, wusste er wieder nicht, wie es mit ihm weitergehen sollte. In Klagenfurt, wo der Kunstrichter Reich-Ranicki über den Ingeborg-Bachmann-Preis waltete, tauchte er 1985 für den Stern auf und gab, sekundiert von dem auf andere Weise unglücklichen Tilman Jens, am Telefon an die Redaktion in Hamburg durch, dass sich bei den Vorlesungen nichts Schicksalsfähiges ereigne. Der so unerschrocken auf Mitläufer und Opportunisten zeigte, musste sich dem letzten Gefängnis-Regime unterwerfen.

In einer klassischen Biografie würde der Mann als unvollendet gelten. Dabei hat er dieses gehetzte Leben mit einem großen Text vollendet, der nach seinem Tod mit ehrfürchtigen Schrecken herumgereicht wurde, einem Trennungsbrief an den "Menscheneigentümer" Rudolf Augstein. Er nennt ihn nicht Zuhälter, sondern einen "Menscheneigentümer", weil er im Spiegel vollständig über seine abhängig Beschäftigten verfügen wollte.

Bei allen Segnungen, die er seinen Mitarbeitern beim Spiegel biete, herrsche dort die "Atmosphäre permanenter Menschenverspottung". "Du und Deine Karaseks können einfach nicht ertragen, dass es auf Gottes Erdboden möglicherweise noch klügere, noch findigere, noch gerissenere Menschen gibt als Spiegel-Redakteure." Schultz-Gerstein konnte das schreiben, weil er mitgemacht hatte, weil er den Mann und seinen Zynismus sogar eine Zeit lang bewunderte. 1987 starb Christian Schultz-Gerstein, erst 41 Jahre alt. Es heißt, er habe sich zu Tode getrunken, Liebeskummer soll auch dabei gewesen sein. Wieder so ein Märchen aus uralten Zeiten, aber leider auch noch wahr.

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