Christian Lehnert; "opus 8. Im Flechtwerk":Das Ich des Glühwürmchens

Christian Lehnert; "opus 8. Im Flechtwerk": "Ich bin der schnelle Lauf / bin fliegenwarm / ein Ball // Aus Weben": Eine Kreuzspinne in der Mitte ihres Netzes.

"Ich bin der schnelle Lauf / bin fliegenwarm / ein Ball // Aus Weben": Eine Kreuzspinne in der Mitte ihres Netzes.

(Foto: Wolfgang Kumm/dpa)

Wie man von den Dingen der Natur redet, ohne sie nach Menschenmaßstäben zu messen: Der Dichterpfarrer Christian Lehnert erschreibt sich die Schöpfung.

Von Jörg Magenau

Die Tradition der Dichterpfarrer in der deutschen Literatur reicht von Paul Gerhard über Johann Peter Hebel bis zu Eduard Mörike. Christian Lehnert, geboren 1969 in Dresden, steht als hymnischer Naturdichter in dieser Tradition, auch wenn er nach dem Studium von evangelischer Theologie, Orientalistik und Religionswissenschaften nicht als Pfarrer arbeitet, sondern als Leiter des Liturgiewissenschaftlichen Instituts an der Universität Leipzig. Dichten ist für ihn eine besondere Art des Gottesdienstes. "Soli Deo Gloria" schreibt er in der Vorbemerkung zu seinem neuen Lyrikband. Wie es einst in der Literatur des Barock üblich war, erklärt er an dieser Stelle, wovon dieses "natürliche Buch" handelt: "Von Pflanzen und Tieren / Mikroben und Steinen in ihren Erscheinungen / Von ihren Namen / Ähnlichkeiten / Heilkraft und ihrem Atem".

Wer seinen achten Gedichtband "opus 8. Im Flechtwerk" nennt, agiert zweifellos mit großem Werkbewusstsein. "Opus 8" ist aber auch ein Hinweis darauf, dass es sich nicht einfach nur um Dichtung handelt, sondern um eine musikalische Struktur. Tatsächlich ist der Band äußerst formstreng komponiert. Die sieben Abschnitte - wie die sieben Tage der Schöpfung - umfassen jeweils sieben Gedichtpaare. Auf der linken Buchseite findet sich fast immer ein Zweizeiler, rechts ein Gedicht, das aus acht Versen besteht, mal kompakt, mal in Strophen gegliedert, aber immer gereimt.

Christian Lehnert; "opus 8. Im Flechtwerk": Dichten als eine Art Gottesdienst: der Lyriker Christian Lehnert.

Dichten als eine Art Gottesdienst: der Lyriker Christian Lehnert.

(Foto: Lukas Schulze/picture alliance / dpa)

Die Zeilen werden zusätzlich durch Schrägstriche gegliedert, die aussehen wie Taktstriche auf einem Notenblatt. Das so gefügte Gebilde erinnert an Bachs "Wohltemperiertes Klavier", nur dass Christian Lehnert seine Präludien und Fugen nicht durch sämtliche Tonarten führt, sondern durch die Vielfalt des Lebens. Das reicht vom Aal über die Amöbe bis zum Amethyst, von der Wiesenweihe über den Winterwald bis zum Weidelgras und variiert dabei ein großes, alles verbindendes Thema: Wachsen und Vergehen oder, wie es zu Beginn gleich heißt: "Werden im Verlöschen".

Jeden der sieben Abschnitte leitet ein Zitat ein. Mit Meister Eckhart, Jakob Böhme, Johann Georg Hamann und dem Buch Sohar aus der jüdischen Kabbala stellt Lehnert sich in die Tradition der Mystiker, mit denen er die Suche nach dem Heiligen teilt, das er aber nicht in einem wie auch immer gearteten Transzendenten zu finden hofft, sondern in der Natur, die benannt, beschrieben und damit allererst erschaffen wird. Schon in der Genesis gehört der Moment der Benennung zum Schöpfungsakt: Gott schafft, aber der Mensch gibt den Tieren ihre Namen. Lehnert tut das staunend und in großer Bescheidenheit. Seine Gedichte sind musikalisch-sprachlicher Schöpfungsakt und zugleich Lob der göttlichen Ordnung.

Die Tiere und Pflanzen sind ganz und gar sie selbst, ohne etwas davon zu wissen. Irgendwo in ihnen pulsiert eine Erinnerung, die sie zu dem führt, was sie werden sollen. Erst die Dichtung gibt ihnen ein Bewusstsein. Die Sprache ist dabei aber nichts Fremdes, sondern kommt aus den Gegenständen, wird vom Dichter nur aufgenommen, so wie im Gedicht über die Haselnuss: "Sie denkt und sie begehrt / sie steht im Wind // Und hängt Begriffe in die Wintersonne. // Sie lösen sich von ihr / die Röllchen sind // Ein vollgestelltes All / darin geronnen // Was sich ihr zeigte. Schneenachts war sie blind // Ins Kahle / Zufallsformen eingesponnen. // Nun stäubt sie Pollen aus / und sie empfängt. // Herangeweht ist das / wohin sie drängt."

Christian Lehnert; "opus 8. Im Flechtwerk": Christian Lehnert: opus 8. Im Flechtwerk. Suhrkamp, Berlin 2022, 124 Seiten, 22 Euro.

Christian Lehnert: opus 8. Im Flechtwerk. Suhrkamp, Berlin 2022, 124 Seiten, 22 Euro.

Jedes Lebewesen, jeder Stein, jede Schneeflocke steht für sich und ist doch Teil des Ganzen. Der Titel "Im Flechtwerk" deutet diesen Zusammenhang an. Das untergründige Wurzelgeflecht einer alle verbindenden Lebendigkeit nimmt alles auf, was die Natur ausmacht. Da gibt es keine höheren oder niederen Lebensformen und schon gar nicht den Menschen als Krone der Schöpfung. Nur in zwei, drei Gedichten spricht sich deshalb ein lyrisches Ich aus, das aber stiller Beobachter bleibt. Das eigentliche Ich dieser Gedichte ist die Sprache selbst. Dann kann auch das Glühwürmchen "ich" sagen oder die Kreuzspinne: "Ich bin der schnelle Lauf / bin fliegenwarm / ein Ball // Aus Weben / bin der Biss / ein Fadenwurf ins All."

Leben erscheint in diesen Gedichten als dynamischer, dialektischer Prozess, in dem das unweigerliche Vergehen und Erlöschen schon im Werden angelegt ist. So heißt es über die Samenkapsel der Stockrose: "In einer Schale ruht die Zeit / von ihr getrennt // Ein ferner Blütensog / das Jahr / das sie nicht kennt". Lehnerts Frömmigkeit ist seine dichterische Ausdruckskraft. Seine Gedichte sind Choräle, die das Leben in all seinen Erscheinungsformen feiern. Trotz der strengen Form wirken sie schlicht und einfach und sind gerade dadurch schön.

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