Süddeutsche Zeitung

Manifeste nach Anschlägen:Eine innere Bühne für Attentäter

Christchurch zeigt: Die Macht der Bilder hat eine neue Dimension erreicht. Warum veröffentlichen Attentäter zu ihren Taten dann oft nach wie vor geschriebene Manifeste?

Von Theresa Hein

Am 19. September 1995 erschien in der New York Times und der Washington Post ein Text namens "Industrial Society and its Future" (auf Deutsch: "Die industrielle Gesellschaft und ihre Zukunft"). Ein Mann schrieb dort, man müsse das, worauf seiner Meinung nach die moderne Gesellschaft aufbaut, die Technisierung nämlich, zerstören. In ihr, so sein Argument, läge das größte Unheil der Welt. Dass die beiden Zeitungen den Text veröffentlichten, lag nicht daran, dass sie ihn so beeindruckend fanden, sondern daran, dass der Autor dazu schrieb, wenn sie es nicht täten, würde er eine Bombe explodieren lassen "mit der Absicht, zu töten". Das FBI identifizierte den Mann als den "Unabomber", einen Terroristen, der bis zu diesem Zeitpunkt drei Menschen getötet und 23 verletzt hatte - und riet den Zeitungen zur Veröffentlichung des Manifests.

Der Text des "Unabombers" ist das wohl berühmteste Beispiel des 20. Jahrhunderts für ein Manifest, das nicht nur eine Gesellschaftstheorie sein will, sondern auch eine Kriegserklärung. Das Konzept war schon damals nicht mehr neu, schon früher haben politische oder künstlerische Manifeste Utopien und Revolutionen gefordert - durchzusetzen notfalls mit Gewalt. Aber kaum eines war bis zu diesem Zeitpunkt so unmittelbar an eine Gewalttat gebunden wie der von Times und Post abgedruckte Auszug.

Ein Terrorist, der Zeitungen erpresst, um seine Agenda in die Welt zu tragen, das scheint - spätestens nach den Ereignissen in Neuseeland vergangene Woche - unfassbar lange her. Menschen wie der Attentäter von Christchurch sind heute nicht mehr auf klassische Medienhäuser angewiesen. Sie nehmen selbst eine Kamera und verbreiten ihre Tat über Facebook. Live, damit alle zusehen können. Sie tun das für ein Publikum, das es gewohnt ist, sich aus der Masse der verbreiteten Bilder und Videos im Netz die herauszupicken, die es sehen oder nicht sehen will.

Als sei die verbreitete Gewalt, die er in seinen Bildern in die Welt geschickt hat, nicht genug, hat der Attentäter von Christchurch seiner Tat noch ein "Manifest" vorausgeschickt, auch an die neuseeländische Premierministerin. In dem 74 Seiten langen Text, in dem es vor allem um den angeblichen "Weißen Genozid" geht, ist die rassistische Weltsicht und Rechtfertigung eines Menschen zu lesen, der sich den Anschein geben will, kein Mörder zu sein, sondern ein durchaus sozial kompetenter, weitsichtiger und intellektuell (vor allem den "Nicht-Europäern") überlegener Mensch. Der Text erinnert in seinem Stil - ähnlich wie die "Vorbilder", auf die er sich bezieht, die rechtsextremen Attentäter Anders Breivik und Dylann Roof - an eine krampfhaft geschriebene Seminararbeit. Um das Pathos perfekt zu machen, steht ihm ein Gedicht von Dylan Thomas voran.

Ungewöhnlich sei diese Art und Weise Selbsterklärung nicht, erklärt der Politikwissenschaftler Peter Neumann. "Die Menschen, die diese Taten begehen und diese Manifeste schreiben, halten sich alle für sehr, sehr klug."

Warum aber veröffentlichen Attentäter überhaupt noch diese Schriften, wenn sie doch mit ihren Bildern und Videos angeblich bereits das erreichen, was sie erreichen wollten - ihre Weltsicht in Form der Zerstörung anderer Menschen, live auf Smartphonebildschirme zu übertragen? Welchen Sinn kann, wenn man im Zusammenhang mit einem Attentat überhaupt von Sinn sprechen möchte, ein vorgeschobener Text noch haben?

"Ein Terroranschlag entfaltet seine politische Wirkung nur, wenn man eine Erklärung dazu abgibt. Ohne terroristische Agenda wird die Tat als politischer Akt gar nicht wirksam", sagt Neumann. Manifeste wie die des Attentäters von Christchurch würden zeigen, vor welchem Hintergrund die Tat begangen wurde. "Das war es unter anderem, was die Sicherheitsbehörden beim NSU so verwirrt hat: Da wurden eine Menge Menschen umgebracht und niemand hat eine Erklärung dazu abgegeben."

Die sogenannte "Propaganda der Tat", Gewalt als Mittel der Kommunikation und Mobilisierung also, sie scheint wenigstens in Teilen noch immer auf das geschriebene Wort angewiesen. Kriegerische, programmatische Manifeste haben eine lange Tradition. Im 19. Jahrhundert etwa gab es Bekennerschreiben von russischen Anarchisten, in denen die Attentäter des Zaren ihre Motive niederschrieben. Die Texte hatten damals wie heute die Funktion, der Öffentlichkeit klarzumachen, was mit dem Anschlag bezweckt werden soll. Und Angst und Schrecken zu verbreiten. Beides ist in Christchurch über die Wucht der Bilder geschehen, ohne dass der Attentäter viel dazu hätte sagen müssen.

Die Wirkung "nach innen" ist ausschlaggebend

Aber, und das sei besonders im Rechtsextremismus auffällig: Die Wirkung der Texte "nach innen" sei das Ausschlaggebende, erklärt die Historikerin und Professorin für Zeitgeschichte an der Universität Bielefeld, Gisela Diewald-Kerkmann. "Es geht nicht nur darum, klarzumachen, was das Konzept dieser Bewegung ist. Es geht darum, Nachahmer im Milieu zu finden, Muster anzubieten, eine Verknüpfung mit der Bewegung zu verdeutlichen."

Man findet diesen Gedanken in den von Attentätern der jüngeren Vergangenheit veröffentlichten Schriften wieder - sie nehmen aufeinander Bezug und heroisieren einander wie in einem absurden Fanclub. "Diese Bestätigung ist ein ganz wichtiger Punkt", sagt Diewald-Kerkmann, "die Anerkennung innerhalb der Bewegung und der Wunsch, dass andere dem Attentäter nacheifern sollen."

Ein Text zu einem Anschlag wie in Christchurch entfaltet über das Fundament, auf das er sich angeblich stützt, eine andere Dimension als einfach nur "Angst und Schrecken", die über die Bilder verbreitet werden. Er ist das Trittbett für die Propaganda der Tat, die eine Radikalisierung ermöglicht und findet sein Publikum in den virtuellen Subkulturen der Rechtsextremisten. "Manifeste" wie das von Christchurch geben denjenigen, die angeblich niemand hören will, eine innere Bühne, die kein Video und kein Bild bieten kann - mit der sie aber genau die Menschen ansprechen, die sie erreichen wollen.

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