Christa Wolf zum 80.:Nachdenken über Christa W.

So viel Inbrunst, ganz zerrissen: Schriftstellerin Christa Wolf feiert heute ihren achtzigsten Geburtstag. Vom gesamtdeutschen Erfolg des Individuums.

Lothar Müller

Ende November 1991 schrieb Jürgen Habermas einen besorgten Brief an Christa Wolf. In einem Thesenpapier zur Vereinigung der beiden Berliner Akademien der Künste, das auch sie befürwortete, hatte er lesen müssen, es habe vor 1989 in beiden deutschen Teilstaaten "Anpassungen an die Mentalität und Kultur der jeweils dominierenden Weltmächte gegeben". Dies habe nicht nur eine östliche, sondern auch eine "westliche intellektuelle und emotionale Befangenheit" erzeugt.

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Soviel Inbrunst, ganz zerrissen: Christa Wolf wird 80.

(Foto: Foto: ddp)

Energisch protestierte Habermas gegen diese "merkwürdige Konvergenzthese". Die östlichen Intellektuellen mochten deformierenden Einschränkungen unterworfen gewesen sein, in der Bundesrepublik aber sei die nach 1945 erfolgte Hinwendung zu den intellektuellen und politischen Traditionen des Westens "eine keineswegs erzwungene oder auch nur einschränkende, sondern als Emanzipation erfahrene Orientierung" gewesen. Christa Wolf antwortete vorsichtig, mit einer Rückfrage: "Der Osten hat auch geistig für Sie keine Rolle gespielt: Könnte darin nicht doch auch eine Verengung liegen?"

Dieser Briefwechsel liegt nun schon fast zwei Jahrzehnte zurück. Die Intellektuellen, die bis zum Oktober 1990 in der DDR gelebt hatten, haben die ästhetische und politische Westbindung der Berliner Republik nicht gefährdet. Um Christa Wolf, die wie Jürgen Habermas und Hans Magnus Enzensberger, Heiner Müller und Günter Kunert zum Jahrgang 1929 gehört, ist es ein wenig still geworden. Die Attacken, denen sie sich im Sommer der Währungsunion 1990 gegenübersah, sind als "deutscher Literaturstreit" ins Archiv gewandert. Damals wurde sie für eine kurze Zeit retrospektiv zur "Staatsdichterin" der DDR ernannt.

Kriegsscham und Mauerbau

Vergessen war ihr couragierter Einspruch gegen Ulbricht auf dem 11. Plenum des ZK der SED im November 1965. Schwer wog 1993 ihr Eingeständnis einer kurzfristigen Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Staatssicherheit im Jahr 1959; wie intensiv sie selbst und ihr Mann, Gerhard Wolf, über Jahrzehnte hinweg Gegenstand der Observation gewesen waren, trat in den Hintergrund. Gerüchte machten die Runde und hielten sich, obwohl sie sich als von der Stasi in die Welt gesetzt erweisen ließen: sie habe ihre Unterschrift unter den Protest gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976 relativiert oder gar zurückgezogen.

Nun, im Gedenkjahr 2009 fällt ein Satz aus dem Brief von Habermas auf, der ein Gegenmotiv zur Diagnose der Ost-West-Differenz anschlug: "Wir beide gehören demselben Jahrgang an, wir teilen dieselben ,Kindheitsmuster'."

Habermas bezog das damals auf das gemeinsame innere Grundgesetz der Biographien, auf den Bruch mit dem politischen Erbe des NS-Regimes und seinen Wegbereitern. Das Gesamtdeutsche am literarischen Werk von Christa Wolf beschränkt sich aber auf diese Ursprungskonstellation gerade nicht, die Habermas in die resolute Westbindung, sie selbst in die "kritische Solidarität" mit der DDR führte. Gewiss, ihr Debüt, die "Moskauer Novelle" (1961) formulierte mustergültig die Scham einer jungen Deutschen gegenüber einem Russen. Und ihre Novelle "Der geteilte Himmel" (1963), mit der sie bekannt wurde, machte die Republikflucht nur zum Thema, um in einer Mischung aus Kolportage und sozialistischer Inbrunst das Bleiben im Land nach dem Bau der Berliner Mauer zu propagieren.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, was den Erfolg von Christa Wolf rapide ansteigen ließ.

Jagd auf die Frau aus dem Osten

Aber zur gesamtdeutschen Erfolgsautorin ist Christa Wolf nicht wegen, sondern trotz ihrer Übereinstimmungen mit der Politik der SED geworden. Nicht erst seit dem Roman "Nachdenken über Christa T.", der in der DDR 1968 erschien, war ihr Schreiben dem Argwohn ausgesetzt, der Anteil an "Subjektivismus" überschreite darin das im sozialistischen Realismus zulässige Maß. Eine gewisse Aura des Nonkonformismus umgab in dem Buch die Tote, über deren Leben sich ihre Mitschülerin in Kindheitstagen, die Erzählerin Rechenschaft abzulegen sucht. Diese Aura gefiel den Lesern und Leserinnen im Westen wie im Osten.

Christa Wolf zum 80.: Manfred Herrfurth und Rita Seidel in dem Film "Geteilter Himmel" von Christa Wolf.

Manfred Herrfurth und Rita Seidel in dem Film "Geteilter Himmel" von Christa Wolf.

(Foto: Foto: dpa)

Der gesamtdeutsche Erfolg Christa Wolfs wuchs mit den Debatten, die im Osten über den "Subjektivismus" und im Westen über die "neue Subjektivität" geführt wurden. Der "authentische" Lebensausdruck konnte, wenn auch mit verschiedenen Spielräumen, hier wie dort als unvermeidlicher Beitrag zur ästhetischen Modernisierung propagiert oder gerechtfertigt werden. Auch im Westen war nach 1968 nicht alles politische Dissidenz und Opposition, was so aussah: vieles war schlicht ein Element fortschreitender Individualisierung.

Ausweitung des Authentischen

Nicht nur als Warenwelt war dieser Westen im Osten anwesend, sondern auch Lebensstil-Verlockung. Importiert werden mussten sie in der DDR nicht, die Lebensstil-Verlockungen des Individualismus. Sie wurden im Rückgang auf die deutsche Literatur und Kunst im Osten selbst hergestellt. Hierbei fiel Christa Wolf eine Schlüsselrolle zu. Seit Beginn ihrer Karriere, schon in ihrem ersten großen Interview, war ihre große Orientierungs- und Vorbildfigur Anna Seghers gewesen. In den vielen Nachworten - etwa zum Roman "Das siebte Kreuz" - und Essays, die Christa Wolf diesem Vorbild über Jahrzehnte gewidmet hat, klingt immer wieder ein Differenz-Motiv an.

Anna Seghers, bis hin zur Biermann-Affäre der politischen Dissidenz eher abgeneigt, hatte zwar schon im Pariser Exil gegen die Propagandisten der Klassik als Vorbilder auch Hölderlin, Büchner, Kleist, Lenz, Bürger - und die Günderrode ins Spiel gebracht. Aber Anna Seghers stand in ihrem zweifelsfrei sozialistischen epischen Gestus als Erzählerin diesen Dichtern eher fern. Christa Wolf wollte eine Anna Seghers werden, die das Erbe der "Zerrissenen" in die DDR einbrachte. Ihr gesamtdeutsches Erfolgsbuch "Kein Ort. Nirgends" (1979), in dem Heinrich von Kleist und Karoline von Günderrode, also zwei prospektive Selbstmörder einander fiktiv im Milieu der Romantik um Savigny und Brentano begegnen, war ein aus der DDR kommendes Gegenstück zu Peter Schneiders Erzählung "Lenz" (1973), die desillusionierte westdeutsche Studenten dazu einlud, sich in Georg Büchner einzufühlen.

Jagd auf die Frau aus dem Osten

Die bis zur Sprödigkeit gehende Annäherung ans Dokumentarische, mit der Christa Wolf in "Kindheitsmuster" (1976) die Kriegszeit in Landsberg an der Warthe und die Flucht nach Westen mit der aktuellen DDR und der aus ihr heraus unternommenen Reise ins nunmehrige Polen collagiert hatte, hat sie in den Romantik-Reprisen aufgegeben. Die annihilierende, ätzend kritische, ästhetisch hochfahrende Frühromantik blieb ihr eher fremd. Wie bei Peter Schneider sind ihre "Zerrissenen" eher Figuren der Empfindsamkeit. Verglichen mit Autoren wie Wolfgang Hilbig, Einar Schleef oder auch Heiner Müller blieb ihre Prosa stets wohltemperiert.

Die Romantik aber wurde mehr und mehr die nach 1819, die aus Schuberts "Winterreise": Chiffre für eine postrevolutionäre, in Restauration und innerer Kälte erstarrende DDR. Nicht die mühsame Treue zum Sozialismus, sondern die Ausweitung des "Authentischen" und "Subjektiven" ins Universelle und Gattungsgeschichtliche war seit den späten 1970er Jahren die Basis für den gesamtdeutsche Erfolg von Christa Wolf.

Den Büchner-Preis erhielt sie 1980. Ihre Erzählung "Kassandra" samt der dazugehörigen Poetikvorlesung in Frankfurt am Main wurde 1982 ein überwältigender Erfolg, weil darin die Kritik an der Industriegesellschaft die Kritik an Kapitalismus und Sozialismus zugleich in sich aufnahm. Die Mythen-Reprise folgte den Grundlinien der Kritik am Patriarchat, mixte Ökologie und Feminismus. Ihr letzter großer Erfolg, "Medea. Stimmen" (1996) ließ sich zudem als Schlüsselroman über die Jagd auf die Frau aus dem Osten lesen. Das mochte politisch hinkommen, war aber ein ästhetisches Selbstmissverständnis. Denn diese Medea war ein sehr gesamtdeutsches Kind individualistischer Moral und Psychologie.

An diesem Mittwoch feiert Christa Wolf ihren achtzigsten Geburtstag. Wir gratulieren.

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