Süddeutsche Zeitung

Chris Dercon im Interview:"An eine europäische Einheit denken die Briten gar nicht"

Lesezeit: 3 min

Chris Dercon, scheidender Direktor der Tate Modern, erklärt die Panik in Großbritannien vor dem Brexit-Referendum - und hält die Abstimmung für einen Riesenfehler.

Von Carolin Gasteiger

Chris Dercon steht in gewisser Weise selbst für den grenzüberschreitenden Europa-Begriff. Er ist in Belgien geboren, lebte und arbeitete bereits in New York, Rotterdam und Paris. In München leitete er das Haus der Kunst, von 2017 an wird er als Intendant an die Volksbühne in Berlin gehen. Seinen baldigen Abschied aus Großbritannien verknüpft Dercon ironisch mit einem Appell: "My exit is not a Brexit".

SZ.de: Herr Dercon, Sie halten das Referendum über den Verbleib Großbritanniens in der EU für einen riesigen Fehler. Das klingt ziemlich besorgt.

Chris Dercon: Wir machen uns alle Sorgen. Aber nicht so sehr wegen des Brexits als solchem, sondern wegen der Art der Debatte. Allein, dass man das über ein Referendum lösen will, ist falsch.

Warum?

In einer repräsentativen Demokratie muss man solche Angelegenheiten anders entscheiden. Die Slogans gegen und für Europa sind ziemlich ordinär, zum Teil sogar vulgär und falsch, und viele Wähler wissen gar nicht, wofür ihre Partei in der Debatte steht. Es herrscht große Verwirrung in der Bevölkerung, da kann man die Leute nicht abstimmen lassen. Das muss das Parlament entscheiden.

Was würde es für die Kultur bedeuten, wenn Großbritannien aus der EU austreten würde?

Das wäre fatal, denn der britische Kulturbereich wird gerade erst durchlässig für Einflüsse und Künstler aus Europa. Nehmen Sie das Theater: Hier gibt es immer mehr Kooperationen mit dem Kontinent, man interessiert sich wieder für Themen außerhalb Großbritanniens, dem britischen Theater geht es wieder gut. Auch Museen tauschen sich immer intensiver miteinander aus. Britische Studenten studieren in Europa, kommen wieder zurück und gehen vielleicht wieder. Ebenso britische Künstler. Viele Projekte sind sogar nur mit europäischen Geldern möglich. Europa wird der Brexit kaum betreffen, aber hier in Großbritannien wird man sich zunehmend isoliert fühlen, auch kulturell.

In der nächsten Woche wird das neue Gebäude der Tate Modern eröffnet, die auch für einen europäischen, grenzübergreifenden Kulturbegriff steht.

Eine der wichtigsten Skulpturgruppen im neuen Gebäude heißt "Die Fremden" von Thomas Schütte ( darin thematisierte Schütte Anfang der 90er Jahre Ausländerfeindlichkeit, Anm. d. Red.). Europäischer geht es ja kaum. In diesem Sinne kann ich nur meinen Slogan wiederholen: My exit is not a Brexit.

Vor kurzem haben sich einige Künstler in einem offenen Brief gegen den Brexit ausgesprochen. Woran liegt es, dass sie so lange still waren?

Die Briten verstehen die Europäische Union vor allem als wirtschaftliches Konglomerat, von dem sie profitieren können. Sie fühlen sich viel mehr in der Ex- Commonwealth-Gemeinschaft aufgehoben, viel mehr zu Amerika hingezogen. Das gilt auch für die Kunstszene. An so etwas wie eine europäische Einheit denken sie gar nicht. Dementsprechend spät ist die britische Kulturszene aufgewacht. Man hat auf Figuren wie Wolfgang Tillmans gewartet, die wachrütteln sollen.

Mit Plakaten und einem Internetaufruf appelliert der deutsche Künstler Wolfgang Tillmans, der in Berlin und London lebt, gegen den Brexit zu stimmen.

Wolfgangs Position ist klar: Es gibt viele, vor allem junge Leute, die sich europäisch fühlen und für die Europa ganz normal ist. David Chipperfield ( britischer Architekt und ebenfalls Brexit-Gegner, Anm. d. Red.) und Tillmans sind zugleich Botschafter Großbritanniens in Europa und europäische Botschafter in Großbritannien. Damit sind sie die Ausnahme, denn viele namhafte britische Stars, auch viele aus der Popkultur, interessieren sich nicht für Europa.

Großbritannien hatte schon immer den besonderen Inselstatus inne - und dementsprechend eine besondere Rolle in der EU. Wäre es dann nicht konsequent auszusteigen?

Der Brexit wird nicht kommen. Irgendwann werden alle aufwachen und realisieren, was für eine Farce das ist. Wahrscheinlicher ist, dass Großbritannien weitere außergewöhnliche Positionen für sich aushandelt. Aber mit der Zeit wird das Land immer unattraktiver für Investoren. Wir merken das auch in der Tate Modern, die warten alle erst mal ab. Auch das britische Pfund reagiert empfindlich auf jede Abweichung in den Prognosen. Das ist nicht gut für die Wirtschaft. Aber im Moment interessieren diese rationalen Argumente die Menschen nicht. Im Moment herrscht totale Panik.

Sie meinen, die Leute treibt die Angst an die Wahlurne?

Das ist für viele ein Tabu, das man nicht ansprechen soll, aber das größte Angstwort momentan ist Einwanderung. Nicht nur bei der alteingesessenen britischen Bevölkerung, sondern auch bei den Migranten, die in den 50er und 60er Jahren gekommen sind.

Aber mit der Angst steht Großbritannien nicht allein in Europa da.

Eben. Die Lösung kann nicht sein, sich abzuschotten. Man muss den Briten die Angst nehmen, das geht nur miteinander. Aber das verstehen die Briten nicht. Sie denken, wenn sie allein reagieren können, geht es besser. Und das ist typisch britisch.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.3028466
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ.de
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.