Erlangen:"Saufen zählt mehr als singen, bei uns kann jeder mitgrölen"

Kneipenchor-Festival Erlangen

"Geiler Scheiß!": Sandra Schwarz führt den gastgebenden Erlanger Kneipenchor durch ein schwungvolles "Video Killed The Radiostar".

(Foto: Max Filmstudios)

Beim ersten Kneipenchorfestivals Deutschlands treffen sich in Erlangen fast 500 Sänger - gerne mit Bier in der Hand auf der Bühne. Ein Besuch.

Von Michael Zirnstein

Auf dem Gänsemarsch zur Kellerbühne gerät der Potsdamer Chor ins Stocken. Schon wieder überfüllt, der Raum. Was also läge näher beim Warten, als zu singen? So haut man en passant den passenden Neue-Deutsche-Welle-Gassenhauer raus: "Wissenswertes, Wissenswertes über Erlangen ..." Eine freundliche Gast-Geste, die ein Einheimischer zu würdigen weiß: "Die haben Kultur!" Geselligkeit steckt an, und so erfüllt ein andauerndes Schnattern, Flaschenklirren und interchorales Miteinstimmen das Erlanger E-Werk.

Dass die Vorhersage im Titel "Die lauteste Kneipe" des Ersten Kneipenchorfestivals Deutschlands eingelöst werden würde, deutet sich bereits zum Auftakt an. Da versammeln sich fast alle 480 Teilnehmer im Saal, und während hier noch ein "Happy Birthday" geschmettert und da besorgt "Jemand noch nicht beschnapst?" gefragt wird, gruppieren sich schon die Massen wie bei einem Demonstrationszug unter ihren Stimmlage-Feldzeichen und stoßen Lockrufe nach Ihresgleichen aus: "Bass! Bass! Bass! Bass ..." Versus: "Alt! Alt! Alt! Alt!" Fast jeder hält ein Bier in der Hand und damit den Kneipenfaktor hoch.

"Was uns verbindet, ist singen und trinken", jubiliert die leopardenbehoste Vivian Bärthlein ins Mikro. Sie hatte mit ihrer Mitbewohnerin Meike Winter erst vor drei Monaten den Aufruf zum Festival gestartet - ohne einen anderen Chor persönlich zu kennen. Man schrieb sich höchstens auf Facebook: "Trinkt ihr auch so viel wie wir?" oder "Das Lied habt ihr doch von uns geklaut." Vor zwei Jahren haben Bärthlein und Winter den Erlanger Kneipenchor gegründet, nach einem Jahr hatten sie 80 Mitglieder und verhängten einen Aufnahmestopp.

Derlei geschieht seit ein paar Jahren in vielen Großstädten. Aus diversen Gründen: Mal, wie in Dresden, geht der Uni-Chorleiter in Rente, man will weitersingen, T.A. Dam - ein ehemalige Kruzianer - übernimmt und gründet damit 2012 den zweiten Kneipenchor Deutschland (nach Berlin). Mal überlegt der Leiter der Musikschulen in Jena und Erfurt, womit er Männer für seine Chöre ködern könnte - klar, mit Bier. Nun haben sich immer schon Gesangsvereine in den Stuben von Lokalen zum Proben und Prosten getroffen. Aber den frischen Wind bei den jungen Wilden fasst Jannis Reuter von den Würzburgern, die sich als "punkigster Kneipenchor" bezeichnen und etwa "Ich ess Blumen" von den Ärzten intonieren, stellvertretend für alle zusammen: "Wir wollen nicht sein, was man sich unter einem Chor vorstellt." Das demonstrieren sie später, als sie beim Auftritt demonstrativ ihre Notenzettel in die Luft werfen. Die mit Glitter geschminkten Potsdamer erinnern eher an einen Junggesellinnenabschied: "Saufen zählt mehr als singen, bei uns kann jeder mitgrölen." Dennoch überzeugen sie auch gesanglich mit ihrem selbstgesetzten "Gummibärchenbande"-Intro. Spaß klingt einfach gut.

Man kann sich denken, aus welchem Hartholz Kneipenchorleiterinnen wie die Erlangerin Sandra Schwarz geschnitzt sein müssen. Eine kreisende Schweigegeste - alle verstummen. Kurze Probe mit allen Lagen ("Ihr Tenöre: Es ist mehr so das leichte Kotzgefühl bei ,werden Brüder'!"). Motivation: "Geiler Scheiß!" Und dann schmettern sich 480 Stimmen durch die "Ode an die Freude!" Wohliger Schauer allüberall. "Wir wollen ein Zeichen für die Demokratie setzen", sagt Schwarz, "wir wollen zeigen, dass wir mehr können als trinken." Auch Dresden sang schon gegen Pegida, Erfurt beim "Mitmenschlich"-Open-Air - man müsse, sagt deren Chef Stefan Räsch, "Haltung zeigen" und "Menschen zusammenbringen" durch "schöne Erlebnisse mit Musik".

Davon gibt es zuhauf. Vor allem ist es ein Fest der Lieblingslieder. Wo wie in Jena stets eine Wunschbox für das Stimmvolk steht, studiert man eben auch Schlager wie "Cordula Grün" ein. Das Aktuelle, Besondere, Überraschende ist die Spezialität der Boaznbanden: Erlangen verzaubert mit Bläsern und "Wenn du tanzt" von Von wegen Lisbeth. Mädelsabend Bamberg erobert mit dem "Blitzkrieg Bop" die kundigen Kollegen im Publikum, deren Bruderschaft Männersache mit George Ezras "Listen To The Man".

Der Münchner Kneipenchor in der Unterhemden-Uniform wird seiner Favoritenrollen gerecht, trotzt dem Lärmpegel mit seiner fünfstimmigen Paradenummer "Killing In The Name" und viel Laut- und Tonmalerei: "Wiu-wiuh-wiuh-wiuh!" Sieger der Herzen vielleicht der inzwischen deutschlandweit berüchtigte Bud Spenzer Heart Chor aus München-Giesing, der nur Lieder aus Bud-Spencer-Filmen singt wie "Sphinx" aus "Plattfuß am Nil". Die kennt zunächst kaum einer, am Ende aber grölen alle begeistert mit, hoher Loriot-Faktor, dazu schwenkt man Fan-Schals wie im Fußballstadion. Der Ehrenpreis ginge wohl an die karnevalsgestählten Kölner: Nur elf Sängerinnen und Sänger halten sich im vollgestopften Kellerclub an den mitgebrachten Kölschgläsern fest und bringen die tobenden Menge mit fein verwobenen Arrangements etwa zu Ahas "Take On Me" zum Lauschen. Es geht auch leise.

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