Der Blick in die Tanzstudios deutscher Opernhäuser beschert derzeit deprimierende Bilder. Entweder herrscht gähnende Leere wie beim Bayerischen Staatsballett, während die Kompanie noch daheim sitzt und sich per Zoom-Training fit halten muss. Oder es stehen zwei bis vier Tänzer mit Musikknopf im Ohr an der Stange, weil unter Corona-Auflagen kein Platz bleibt für Pianist und Ballettmeister. Nicht überall gelten die gleichen Vorschriften. Das Stuttgarter Ballett zum Beispiel arbeitet mit dem rekordverdächtigen Mindestabstand von acht Metern. Dafür hat der Betriebsarzt gesorgt, nachdem vier Krankheitsfälle das Ensemble schon vor dem allgemeinen Shutdown in Quarantäne verbannt hatten.
Trainiert wird in mehreren Schichten, der Ballettsaal dazwischen einer akribischen Desinfektion unterzogen. Ähnlich sieht es in Hamburg, Berlin, Zürich oder Dortmund aus. Dort führt der Ex-Tänzer Tobias Ehinger die Operngeschäfte. Im Schulterschluss mit Kollegen hat er darauf hingewirkt, dass die Theater in Nordrhein-Westfalen ab Ende Mai schrittweise öffnen dürfen. Die Spielzeit ist trotzdem gelaufen, allenfalls Freiluftformate sind machbar. Man denke, so Ehinger, über Specials nach: "Verschiedene Stationen, jeweils ein Tänzer, ein Musiker - Spaziergänge unter Einhaltung des Abstandsgebots."
Für die Tänzer ist die Rückkehr ins Studio die wichtigste Voraussetzung, um halbwegs in Form zu bleiben. Das unterscheidet sie von Sängern oder Schauspielern. Zudem ist ihr Berufsinstrument unter Verdacht geraten, seit die Pandemie jeden Körper in eine argwöhnisch beäugte Gefahrenquelle verwandelt hat. Dieses Misstrauen drückt aufs Gemüt. Nicht umarmen, nicht anfassen, mindestens eineinhalb Meter vom Nachbarn abrücken - für Menschen, die jeden Tag ganz bewusst mit dem Körper kommunizieren, ist das eine Höchststrafe. Trotzdem hegt niemand die Illusion, man könne im Herbst wieder auf Normalbetrieb umschalten. Ob Wuppertaler Tanztheater, ob Stuttgarter Ballett, überall wird das Repertoire auf den Prüfstand gestellt: Was könnte gehen, was nicht?
Höflinge und Hofdamen der Renaissance durften einander bestenfalls wie Himmelsgestirne umkreisen
Das Ergebnis steht mehr oder minder von vornherein fest: Fast alles, was der Fundus hergibt, wandert bis auf Weiteres ebenso ins Depot wie die geplanten Novitäten. Unter Corona-Vorzeichen kann es keinen Pas de deux, keine Gruppenszenen, keine Annäherung auf Armeslänge und schon gar keine Berührung geben. Ausnahmen gelten für Tänzer, die zusammenleben. Insgesamt aber steht die zeitgenössische Choreografie vor einer Herausforderung, will sie sich nicht komplett ins Virtuelle verflüchtigen. Eine "Kameliendame", einen "Spartacus" kann man sich fürs Erste auf jeden Fall abschminken. Was also bleibt außer Solo-Serien?
Fest steht, dass die Tanzkunst in ihren Anfängen keineswegs kontaktfreudig war. Höflinge und Hofdamen der Renaissance durften einander bestenfalls wie Himmelsgestirne umkreisen, später hielt sich der tanzbegeisterte Sonnenkönig seine Entourage vom Leib. Erst mit dem Siegeszug der Ballerinen eroberten Beziehungsdramen die Tanzbühne, gefolgt von modernen Bewegungschören, die als Ab- oder Wunschbild der Gesellschaft dienten. Wenn das Virus-Regiment nun zeitweilig zu kleineren Tanz-Dimensionen zwingt, wird einerseits das Sichtfeld beschnitten. Andererseits liegt in der Verengung auch eine Chance.
Die minimalistische Beschränkung ermöglicht dem Tanz, sich auf sein Wesen zu besinnen. Die Form wird kleiner, das Format bescheidener, der Spielort ändert seine Beschaffenheit. Umso wichtiger ist es, an der Bewegung selbst, an ihrer Sprachlichkeit zu feilen. Seit ewigen Zeiten drücken sich gerade vermeintlich innovative Szenevertreter in Praxis und Theorie davor, die Tanzkunst als Kunst - im Sinn von Handwerk, Ästhetik, Vision, Idee, Haltung - anzufassen. Von Ballett bis Body-Suspension wird mancherorts jede Menge Material zum performativen Eintopf verrührt, als "Tanz" über die Rampe geschoben und im Parkett konsumiert. Mit Choreografie hat das wenig zu tun, viel dagegen mit militantem Murks. Wenn davon nach Corona weniger übrig bleibt, hält der Verlust sich in Grenzen. Sofern der Tanz die Gunst der Stunde nutzt und sich selbst ein Stück weit neu erfindet.