Süddeutsche Zeitung

Chinesischer Film "Bis dann...":Vom Jungen, der zweimal geboren wurde

Lesezeit: 3 min

Wang Xiaoshuais Film "Bis dann, mein Sohn" malt eine epische Familientragödie als Porträt einer ganzen Epoche.

Von Anke Sterneborg

Diskret nimmt der Film Abstand von der großen Tragödie in seinem Zentrum. Ganz winzig sieht man in der Ferne den Aufruhr am Stausee, hört die panischen Rufe nach einem Jungen, der leblos aus dem Wasser gezogen wird und den seine Eltern dann durch einen langen Tunnel ins Krankenhaus tragen. Die Sache geht nicht gut aus. Kurz darauf liegt die Mutter von Xingxing, vermutlich mit Beruhigungstabletten betäubt, zu Hause auf dem Bett. Gelegentlich hallt ein feines Schluchzen durch den einfach eingerichteten Schlafraum im Arbeiterwohnheim, hier ein Wispern, dort ein erschüttertes Raunen. Dann nimmt die Familienchronik, die zugleich ein Historienpanorama ist, ihren Lauf.

Ausgehend vom Tod des kleinen Xingxing und den Schuldgefühlen seines Cousins Haohao spürt der Film über mehrere Jahrzehnte hinweg den Erschütterungen nach, die sich durch ein dichtes Geflecht von Freundschafts- und Familienbeziehungen ausbreiten wie die Ringe, die sich im Wasser bilden, wenn man einen Stein hineinwirft.

Mit jeder Wendung, mit jedem Zeitsprung erschließen sich neue Zusammenhänge

Dabei arbeitet sich der Film nicht chronologisch durch den Lauf den Ereignisse, sondern springt im Zickzackkurs durch die Zeiten und zwischen den Orten hin und her, von der großen Industriestadt im Norden, aus der die Eltern des verunglückten Kindes flüchten, in die kleine Hafenstadt im Südosten, wo sie Zuflucht suchen, unter lauter Fremden, die nichts wissen von ihrem Schicksal. Das ist zunächst ein bisschen verwirrend, doch es lohnt sich, den ausgelegten Spuren zu folgen, immer mehr Zusammenhänge herzustellen, bis man am Ende wie ein Detektiv die verschiedenen Teile zu einem großen Bild zusammenfügen kann.

In der ersten Szene des Films, die noch vor dem Unglück am Stausee gezeigt wird, in der Zeitachse aber danach liegt, sieht man eine kleine Familie, die Mutter hantiert in der Küche einer einfachen Hütte, der Vater kommt aus dem Bootsschuppen herein, ihr halbstarker Sohn probt den Aufstand, ein Teenager eben, denkt man, bis sich langsam aus den Tiefen der Familiengeschichte ein viel größeres Trauma materialisiert. Der Sechzehnjährige heißt Xingxing, wie das verunglückte Kind, zumindest nennen die Eltern Yaojun und Liyun ihn so, in ihrer Sehnsucht nach einem Platzhalter. In Kreisbewegungen dringt diese epische Erzählung immer tiefer in die Verstrickungen von privaten Schicksalen und staatlicher Doktrin, von den Ausläufern der Kulturrevolution in den späten Siebzigerjahren bis zum modernen Wirtschaftsboom. Und mit jeder Wendung und jedem Zeitsprung erschließen sich neue Zusammenhänge.

Vor dem Unglück am Stausee wird Liyun ein zweites Mal schwanger. Als das in der Fabrik auffällt, erzwingt ihre Schwägerin, die nicht nur die Beauftragte für Familienplanung im Betrieb ist, sondern auch die Mutter von Xingxings bestem Freund Haohao, eine Abtreibung, und sorgt danach dafür, dass die gepeinigten Eltern eine Auszeichnung für die strikte Umsetzung der Ein-Kind-Politik bekommen, ihr perfider Versuch der Wiedergutmachung.

In drei kontemplativen Stunden entfaltet der Film die Lebenswelten dieser Menschen, breitet die komplizierten Strukturen aus, die aus der unlöslichen Verquickung von Privatem und Politischem entstehen. Das ist fein und unaufdringlich, so genau und einfühlsam erzählt, dass man sich dem Sog dieser Geschichte nicht entziehen kann. Viel hat das mit dem leisen und wahrhaftigen Spiel von Jingchun Wang und Mei Yong zu tun, die dieses Paar mit ergreifendem Understatement verkörpern, dafür wurden sie auf der Berlinale mit dem Silbernen Bären ausgezeichnet.

Die Hauptdarsteller erhielten den Silbernen Bären der Berlinale

Die Art, wie sie den Verhältnissen mit innerer Stärke und großer Demut trotzen, steht auch für auch die Haltung von Wang Xiaoshuai. Zusammen mit Jia Zhangke ("Still Life", "Asche ist das reinste Weiß"), Lou Ye ("Blind Message") und Yinan Diao ("Black Coal, Thin Ice") gehört er zu einer Generation von Autoren-Regisseuren, die seit dem Ende der Neunzigerjahre einen neuen, leisen, naturalistischeren Tonfall in das chinesische Kino gebracht haben, mit subtilen Formen der Kritik an nicht aufgearbeiteten, historischen Sünden und gegenwärtigen politischen und wirtschaftlichen Missständen.

Anders als Chen Kaige oder Zhang Yimou protzt Wang Xiaoshuai nicht mit wuchtigen Bildern und Motiven. Statt Geschichten zu forcieren, lauscht die seismografische Handkamera des Südkoreaners Kim Hyun-seok Gesichtern und Schauplätzen, weiten Landschaften und engen Wohnräumen Lebensgefühle ab. Und der thailändische Schnittmeister Lee Chatametikool choreografiert die Teile dieses großen Lebenspuzzles mit unaufdringlicher Virtuosität, sanft rhythmisiert mit dem leitmotivischen Einsatz des melancholischen Liedes "Auld Lang Syne", das Freundschaft und Erinnerung beschwört. Diese Szenerien und Lebensläufe zu durchstreifen und auf der Suche nach Orientierung und Erklärung all die kleinen, ausgestreuten Zeichen zu lesen, bereitet enormes Vergnügen.

Di jiu tian chang , China 2019 - Regie, Buch: Wang Xiaoshuai. Kamera: Kim Hyun-seok. Schnitt: Lee Chatametikool. Mit: Jingchun Wang, Mei Yong, Liya Ai, Jiang Du, Xi Qui, Zhao-Yan Guo-Zhang. Verleih: Piffl Medien GmbH. 183 Minuten.

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Quelle:
SZ vom 18.11.2019
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