China auf der Buchmesse:Variationen von Wirklichkeit

Hat es sich jetzt gelohnt, dass China Ehrengast der Buchmesse war? Wirtschaftlich gesehen auf jeden Fall. Aber wie demokratisch war das Miteinander von Delegation, Dissidenten und Journalisten?

Alex Rühle

Am Samstagnachmittag hängt Migränewetter über Frankfurt, es nieselt, die meisten professionellen Besucher hängen nur noch erschöpft an Imbissbuden rum, über denen ein fettiger Zwiebeldunst liegt. Einige sehen psychisch so derangiert aus, als hätten sie die vergangenen vier Tage ohne Unterbrechung in Stroboskoplicht geschaut. Ein Mann blättert, während er sich eine Bratwurst ins Gesicht schiebt, ein regendurchweichtes Magazin der Tibet-Initiative durch. Als er bemerkt, dass das Heft von 2005 stammt, sagt er: "Gab es da oben nicht Krach seither? Oder war das Sichuan?"

Und? Hat es sich jetzt gelohnt, dass China Ehrengast der Buchmesse war? Wirtschaftlich gesehen auf jeden Fall. Für die chinesischen Verlage war der Auftritt in Frankfurt ein Riesenerfolg: Mehr als 1 300 Lizenzen wurden hier an ausländische Verlage verkauft. Literarisch gesehen auch. Andernfalls hätte man hierzulande wahrscheinlich noch lange warten dürfen auf die Bücher von Li Er und Xu Zechen, um nur zwei der vielen Titel zu nennen, die im Vorfeld der Buchmesse übersetzt wurden.

Li Er begibt sich in seinem Roman "Die Koloratur" auf Spurensuche nach einem vermeintlichen Volkshelden aus der Zeit des sino-japanischen Krieges. "Truth and Variations", der englische Titel des Buches, deutet an, warum dieses Buch so interessant ist.

Aus drei einander widersprechenden Perspektiven wird hier das Leben eines Übersetzers, Schriftstellers und Kommunisten erzählt. Am Ende weiß man nicht einmal, ob der Mann noch am Leben ist, geschweige denn, wie sein Verhalten einzuordnen ist. War er ein feiger Verräter oder ein mutiger Krieger? So ist das eigentliche Thema des Buches die Schwierigkeit, wahre Geschichten zu erzählen. "In der Tat", schreibt eine der Stimmen, ",Wirklichkeit' ist ein illusorischer Begriff", und fügt hinzu, die Wirklichkeit erscheine "wie ein Zwiebelkern, den es nicht gibt. Du schälst die Zwiebel Schicht für Schicht und zum Schluss bleibt nichts übrig."

Um beim Zwiebelbild zu bleiben: Schreibt man als Journalist Kritisches über das Gastland China, bekommt man von deutschen Sinologen und Publizisten scharfe Kommentare, über eigene Intoleranz, westlichen Hochmut oder das "andere Demokratieverständnis" der Chinesen. Sitzt man dann aber im chinesischen Pavillon und hört mit allerbestem Willen der Delegation des GAPP zu, jenes ominösen Amtes für Presse und Veröffentlichungen, das gleichzeitig Börsenverein und Zensurbehörde der Volksrepublik China ist, könnte einem deren Gerede Tränen in die Augen treiben, fast so als esse man eine rohe Zwiebel.

Da schwärmen die Funktionäre der Behörde, die auch im vergangenen Jahr wieder 600 Bücher zensiert hat, von ihrer edlen Aufgabe, "die Rechte der Bürger zu schützen" und "den Menschen gute Bücher zu empfehlen". In den 3 000 Jahren vor der kommunistischen Revolution seien weniger Bücher erschienen als in den 60 Jahren, die seither vergangen sind. Dann schaltet der Redner auf Autopilot, aus seinem Mund marschieren endlose Zahlenkolonnen, exakt bemessen bis auf vier Stellen hinter dem Komma. Eine Steigerung von 45 Prozent. Im Jahr! 3 400 Bücher! 7 000 irgendwas! Dann gibt es eine Fragenrunde. Es werden sieben Fragen von chinesischen Journalisten zugelassen, die inbrünstig darum bitten, dass noch mal die langweiligsten Zahlen wiederholt werden. Dann ist die Redezeit um. Nein, stimmt nicht, das ist polemisch. Zwei Westler durften auch etwas fragen: Was wird dem verschleppten Pen-Präsident Liu Xiaobo vorgeworfen? "Woher sollen wir das wissen. Wird schon seinen Grund haben." Warum haben die Taiwanbücher an Ihrem Stand einen Aufkleber mit der Aufschrift, alles, was der Ein-China-Politik widerspreche, werde zurückgewiesen? "Ich verstehe die Frage nicht, Taiwan gehört zu China, das ist wirklich Allgemeinbildung."

Der Schriftsteller und Journalist Zhou Qing fragte direkt im Anschluss alle anwesenden chinesischen Journalisten, was sie von so einer Pressekonferenz halten. "Ausnahmslos alle sagten mir, was für ein Dreck diese Konferenz wieder gewesen sei. Sie fügten aber auch alle an: ,Sei's drum, wir schreiben für unsere Zeitungen getrennt von unserem Leben.'"

Zhou ist einer der wenigen chinesischen Journalisten, die versuchen, Leben und Schreiben in Einklang zu bringen. So etwas kann in seinem Heimatland schmerzhaft enden. Zhou saß einmal 51 Tage in Isolationshaft, in Handschellen, in einer zwei Quadratmeter großen fensterlosen Zelle. "Ich habe fünf Zähne verloren, aber es war eine effiziente Diät. Ich hab damals auch 20 Kilo verloren." Als Zhou vor drei Jahren ein Buch über die Lebensmittelskandale in China recherchierte, wurde er in einem Restaurant von drei Unbekannten mit einer Bierflasche verprügelt. Er hat davon noch eine Narbe am linken Mundwinkel, die sich beim Lächeln verzieht.

Adorno beschrieb die Dummheit als "Wundmal, eine unmerkliche Narbe, eine kleine Verhärtung, an der die Oberfläche stumpf ist. Solche Narben bringen Deformationen." Der Auftritt der GAPP-Delegation zeigte viele solcher Deformationen. Die Buchmesse sollte ja Teil der neuen außenpolitische Strategie Chinas sein: Das Land will sich im Ausland als "soft power" präsentieren. Die offiziellen Vertreter erinnerten in ihrem Betonkadersprech weniger an Soft Power als an harte Hunde aus längst vergangenen Dekaden.

Der Einwand, die westlichen Medienvertreter seien aber auch nervig mit ihrem immergleichen Menschenrechtsgetue, verfängt da nur teilweise. Ja, stimmt, es war teilweise peinlich, was westliche Journalisten hier anstellten. Zum Beispiel, mit wehender Free-Tibet-Fahne durch den chinesischen Pavillon zu rennen und dann einem perplexen Lyriker, hinter dem zwei grimmige Funktionäre standen, ein Mikrofon ins Gesicht zu halten.

Man kann auch die Übersetzungsprobleme auf einigen Podien als Zeichen für die schwierige Völkerverständigung sehen. Geradezu grotesk geriet die Veranstaltung mit den beiden Exil-Schriftstellern Gao Xingjian und Yang Lian. Der in Paris beheimatete Nobelpreisträger und der in London lebende Essayist und Lyriker sprachen, so versicherte danach eine begeisterte österreichische Sinologin, sehr scharfsinnig und bilderreich über die merkwürdige Situation, zwischen verschiedenen Kulturen zu Hause zu sein. In der deutschen Simultanübersetzung kam davon nur surreales Gestammel an: "Die äh die Gefühle äh (Schweigen) also wenn, Gefühle, die wir machen, die äh (Schweigen). Bei unser gibt es den Ausdruck, dass man die Worte, die man sucht, nicht findet (Schweigen). Das ist eine geistige Landschaft, ein Bild." Dixit Nobelpreisträger Gao.

Das vielleicht beste Bild von der geistigen Landschaft und den extremen Umwälzungen in China zeichnet ein Essayband, den die Heinrich-Böll-Stiftung herausgab. Der Politikwissenschaftler Thomas Heberer sagte bei der Präsentation von "Wie China debattiert - Neue Essays und Bilder aus China", das Buch sei ein Beweis dafür, "dass es in China sehr wohl eine blühende Debatte über gesellschaftlichen Wandel gibt".

Das stimmt eben nur teilweise. Es zeigt, dass in hermetisch geschlossenen akademischen Zirkeln erstaunlich scharf geredet und geschrieben werden darf. Der Agrarwirtschafter Li Changping, der in seinen Arbeiten die desaströse Lage der Bauern beleuchtet, schreibt etwa in polemisch grollendem Tonfall und lakonischer Wut von "denen da oben" und von "rücksichtsloser Ausbeutung durch die neuen Grundherren". Ja, dieser Text wurde in China veröffentlicht. Aber eben nur in einem Fachmagazin. In den Medien, so erklärten die anwesenden Wissenschaftler Heberer übereinstimmend, in den Medien dürfe all das nicht thematisiert werden.

Der Hauptvorwurf einiger Sinophilen an die deutschen Medien lautet ja, diese forderten zu schnell zu vieles, China sei auf einem guten Weg, brauche nur Zeit. Der Band widerlegt diese These. Über die Demokratisierung schreibt Li Changping: "Die jetzige Demokratie bedeutet nur, dass die Hände der Bauern benutzt werden, um diejenigen Kader nach oben zu hieven, die ,die da oben' haben wollen. Das Ergebnis ist das gleiche wie früher, nur büßt die arbeitende Bevölkerung bei dieser ,demokratischen Vorgehensweise' noch mehr von ihrer Habe ein."

Eine Demokratisierung, die die autokratischen Machtverhältnisse zementiert, wechselseitige üble Gerüchte von Dissidenten über Delegationsteilnehmer und umgekehrt, Sinologen, die Toleranz für die chinesische Kultur einfordern, aber damit doch nur die chinesischen Machtstrukturen meinen, Widersprüchliches zur Informationspolitik und ein Autor namens Wang Meng, der auf einer Podiumsdiskussion zur zeitgenössischen Literatur Chinas sagte, während die russischen Autoren nach der Revolution in Scharen das Land verlassen hätten, seien die chinesischen Exilschriftsteller nach 1949 allesamt dankbar in die Heimat geströmt. So ging es tagelang, Schicht um Schicht, aber am Ende blieb, anders als in Li Ers Zwiebelroman, nicht nichts übrig, sondern ein schaler Geschmack.

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