China, Ai Weiwei und die Aufklärung:Die Kritik der reinen Anti-Vernunft

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Selbstverliebte Exzentrik oder aufrechter Gang? Bemerkenswert, welchem Vorwurf der inhaftierte Künstler Ai Weiwei in China ausgesetzt ist. So gründlich kann man Konfuzius eigentlich nicht missverstehen.

Heiner Roetz

Im Schatten von Verhaftungen und Einreiseverboten geht in Peking die Ausstellung "Kunst der Aufklärung" mitsamt den chinesisch-deutschen "Dialogen" ihren Gang. Was hieran stört, ist das Thema. Immanuel Kant zufolge ist das Zeitalter der Aufklärung das "eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muss. Religion, durch ihre Heiligkeit, und Gesetzgebung, durch ihre Majestät, wollen sich gemeiniglich derselben entziehen.

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Aber alsdenn erregen sie gerechten Verdacht wider sich, und können auf unverstellte Achtung nicht Anspruch machen, die die Vernunft nur demjenigen bewilligt, was ihre freie und öffentliche Prüfung hat aushalten können." Kants Sätze rühren an die Wurzel des chinesischen Systems, dem der freie Gebrauch der Vernunft suspekt ist.

Kant ist in seiner eindrücklichen Bestimmung des Wesens der Aufklärung Christian Wolff verpflichtet. Schon Wolff fordert die "Freyheit zu philosophiren", die im "ungehinderten Gebrauche seines Verstandes besteht". Ist man hingegen "gehalten, etwas für wahr zu halten, weil es ein anderer sagt, daß es wahr sey, so ist man in der philosophischen Sklaverey".

Wolff schreibt dem Menschen eine natürliche Vernunft zu, die keiner fremden Belehrung bedarf. Hierzu beruft er sich in einer Rede von 1721 auf Konfuzius. Er zitiert China als Beleg für die Möglichkeit einer autonomen Moral jenseits der Bevormundung durch religiöse oder weltliche Autoritäten. Die Chinesen, so liest er aus den konfuzianischen Texten heraus, lassen nur Handlungen gelten, die "ihrem Einsehen nach mit der Vernunft aufs Genaueste übereinkommen", aber nicht solche, die "aus Furcht vor einem Oberherrn" geschehen. Seine Rede trug ihm den Verlust seines Lehrstuhls in Halle und die Verweisung aus Preußen ein.

Die Freiheit des eigenen Urteils einzufordern, war nicht nur im Preußen des 18. Jahrhunderts ein gefährliches Unterfangen; sie ist es auch im China der Gegenwart. Die anciens regimes hier wie dort fürchten die "Emanzipation des Geistes von den Institutionen", wie Madame de Staël die Aufklärung bündig auf den Begriff brachte. Es stellt eine für die Regierenden Chinas unangenehme Verbindung her, dass auch die Tiananmen-Bewegung sich als "neue Aufklärung" verstand. Nicht minder unangenehm muss es sein, dass Konfuzius der Kronzeuge der europäischen Freidenker war. Denn dies passt nicht zu der ihm heute zugedachten Rolle: einem autoritären System die kulturelle Weihe zu verleihen.

Das Interesse der Aufklärung am Konfuzianismus ist oft als oberflächliche Chinoiserie abgetan worden. Sicher war ihre Sicht von Idealisierungen und Projektionen nicht frei. Und doch lassen sich Lesarten der konfuzianischen Ethik wie jene Wolffs verteidigen. Zwar ist der Konfuzianismus eine Symbiose mit dem Obrigkeitsstaat eingegangen, und er sucht sie auch heute wieder.

Doch erschöpft sich darin trotz vieler Ambivalenzen nicht die Substanz der ursprünglichen Lehre. Sie enthält Zeugnisse einer Widersetzlichkeit gegen illegitime Macht, die von der Inanspruchnahme des offenen Wortes bis zur Rechtfertigung des Tyrannenmordes gehen. Ein Protagonist dieser Ethik wird sich, so Mengzi (370-290), "durch Reichtum und hohe Stellung nicht verlocken und durch Autorität und Gewalt nicht beugen lassen". Er wird gegebenenfalls "seinen Weg allein gehen". Mengzi stützt sich auf die Annahme einer dem Menschen angeborenen Moralität, die ihm die Kraft gibt, sich von äußerer Gängelung freizumachen. Ganz ähnlich beruft sich Wolff auf die innere Stimme der Natur.

Bekundungen des aufrechten Ganges finden sich in vielen Teilen des konfuzianischen Kanons. Sie wurden schon von den Machtapologeten des antiken China der selbstverliebten Exzentrik verdächtigt. Es ist bemerkenswert, dass der inhaftierte Künstler Ai Weiwei heute exakt dem gleichen Vorwurf ausgesetzt ist: Er wird als Außenseiter angegriffen, der "seinen Weg allein gehen will".

Nichts könnte deutlicher zeigen, dass es sich bei dem konfuzianischen Gepränge, das China sich heute zulegt, vor allem um Fassade handelt. Konfuzianismus und Aufklärung wäre eine gute Alternative.

Der Autor ist Sinologe. Er lehrt an der Ruhr-Universität Bochum.

© SZ vom 09.04.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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