Chilly Gonzales im Gespräch:"Der größte Feind der Kreativität ist das Gefühl, alles tun zu können"

Chilly Gonzales

"Wenn du unberechenbar bist, können die Leute ihren Blick nicht abwenden." Chilly Gonzales beim Montreux Jazz Festival.

(Foto: dpa)

Chilly Gonzales, der Klavier-Kaiser des Indiepop, spricht über seine Zeit als Barpianist und was es wirklich bedeutet, live aufzutreten.

Interview von Jakob Biazza

Zivilkleidung, kein Bademantel. Chilly Gonzales trägt Strickjacke über dem schwarzen, eher nicht gebügelten Hemd und Sneakers, die er wohl schon länger besitzt. Gut möglich, dass er in seiner Freizeit so herumläuft. Sicher sein kann man nicht - über das Privatleben des Pianisten, Rappers, Indiepop-Entertainers ist sehr wenig bekannt. Daran ändert auch die neue Doku "Shut Up And Play The Piano" nicht viel, für die der Journalist Philipp Jedicke den Grammy-Gewinner dreieinhalb Jahre begleitet hat. Dafür verschafft einem der Film einen guten Überblick über die Kunstfiguren, die Jason Charles Beck, wie der kanadische Musiker eigentlich heißt, bislang erschaffen hat. All die lauten Snobs und Bohemiens, all die Größenwahnsinnigen, die sich selbst als musikalische Genies bezeichnen - oder aber auch, ursprünglich nur zum Ausgleich, sehr leise und verwirrend intime Klaviermusik komponieren. Gerade ist der dritte und letzte Teil seiner "Solo Piano"-Alben erschienen. Außerdem hat er ein "Gonzervatory" gegründet. Eine Art Musikschule, bei der junge Musiker für eine Woche nach Paris eingeladen werden, um mit ihm Songs zu schreiben. Zeit für ein Gespräch übers Lehren und Lernen.

SZ: Mister Gonzales, die mit schönsten Momente in "Shut Up And Play The Piano" beschert Archivmaterial vom Anfang Ihrer Karriere in Berlin. Man sieht Sie darin unter anderem nur mit Unterhosen bekleidet, in eine Melodica blasend, neben der Sängerin Peaches herumhüpfen.

Chilly Gonzales: Eine fantastische Zeit. Die Freiheiten, die ich hatte - die Naivität, der Exzess, die Unbekümmertheit, mit der ich an alles rangegangen bin. Ich könnte heute nicht tun, was ich tue, hätte ich es damals nicht so übertrieben. Außerdem gab es das Internet noch nicht.

Ist der Unterschied wirklich so groß?

Oh, ja. Die Räume, in denen ich mich gehen ließ, waren viel geschützter. Es erscheint mir mindestens fraglich, ob man heute noch so übertreiben könnte. Ich jedenfalls bin sehr froh, dass ich zu der Einsicht, an einem Abend zu weit gegangen zu sein, gelangen konnte, ohne dass jemand Bilder davon ins Netz stellte.

Sie kamen damals frisch aus Kanada - aus einer Unternehmerfamilie, in der, wie Sie sagen, Erfolg eine Art Religion war. Das klingt nach sehr hohen Erwartungen. Wie bricht man mit denen?

Moment! Ich habe nicht damit gebrochen. Sehen Sie mich an: Ich habe fünf Angestellte, ich habe ein Label, ich habe eine Musikschule gegründet. Ich bin Unternehmer.

Jetzt schon. Der Typ in der Unterhose konnte aber wohl nicht ahnen, dass er mal fünf Angestellte haben wird.

Aber er konnte immerhin von dem leben, was er tat. Das war für mich, wie im Lotto zu gewinnen und brachte eine enorm wichtige Erkenntnis: Ich könnte theoretisch auch nur das machen. Ein paar Auftritte pro Woche genügen mir, um zumindest eine Wohnung zu haben und Essen. Außerdem veränderte Rap damals meinen Blick darauf, was Erfolg sein kann, extrem.

Weil im Rap der kapitalistische Gedanke, dass Erfolg mit Qualität gleichzusetzen ist, so tief verankert ist?

Exakt. Und weil das im Umkehrschluss das Versprechen in sich trägt, dass man nur der Beste zu werden braucht, um auch Erfolg zu haben. Rap hat mir gezeigt, wie ich das, womit ich großgeworden bin, auf meine Art umsetzen kann. Das hat es mir ermöglicht, die Ochsentour durchzustehen, noch mehr Risiken einzugehen und dabei - ganz wichtig - trotzdem Spaß zu haben. Ich rieche auf große Distanz, wenn etwas keinen Spaß mehr machen wird. Und dann ändere ich sofort etwas.

Was macht keinen Spaß?

Jemand von etwas überzeugen zu müssen. Deshalb habe ich mein eigenes Label gegründet. Etwas Neues zu lernen macht hingegen großen Spaß.

Was haben Sie in Ihrer Berlin-Zeit gelernt?

Publikumspsychologie. Und dabei vor allem die Antwort auf die Frage, wie man die Aufmerksamkeit der Leute bekommt.

Und wie bekommt man sie?

Unberechenbarkeit. Wenn du unberechenbar bist, können die Leute ihren Blick nicht abwenden. Das gilt besonders auf der Bühne. Es gilt aber auch für Alben und alle anderen Projekte. Der große Luxus meiner Karriere war es, ständig etwas Neues machen zu können. Wo immer die Leute mich erwartet hatten, war ich längst nicht mehr, sondern rief ihnen von irgendwo zu: "Ich mache jetzt übrigens Kammermusik." Und kurz darauf: "Jetzt mache ich was mit Jarvis Cocker." Ich konnte immer den Reset-Knopf drücken.

"Solo Piano III" fällt aus dieser Logik heraus, es ist noch mehr von etwas, das man von Ihnen längst kennt.

Deshalb war es auch ein unfassbarer Druck. Wirklich grauenhafter Stress. Ich musste mich die ganze Zeit darum sorgen, es nicht zu verbocken. Die Menschen kennen und lieben die ersten beiden Alben und leiten daraus Erwartungen ab. Deshalb endet der Zyklus auch als Trilogie. Ich hab die Schnauze voll. Ich will, dass es vorbei ist. Ich musste es zu Ende bringen, weil drei die richtige Zahl ist. Aber es wird auf keinen Fall einen vierten Teil geben.

Haben Sie sich auch mal gewünscht, nach dem ersten Teil aufgehört zu haben?

Das hätte ich machen können. Aber ich entschied mich, nah an die Sonne zu fliegen - und ich habe überlebt. Jetzt hoffe ich, dass ich den dritten Versuch auch überstehe. Der dritte Teil ist für mich eine Evolution. Es ist vertraut, aber anders - das ist der Trick, mit dem man Fortsetzungen hinbekommen kann.

"Einschränkungen bewahren einen vor existenziellen Fragen"

Sie haben sich die Figuren, die Sie über die Jahre dargestellt haben, immer sehr bewusst ausgedacht.

Hm, ich glaube, das ist eher unbewusst passiert, aber offenbar so, dass es im Rückblick ein relativ stimmiges Narrativ ergibt. Ich habe die Studenten des Gonzervatory mit Thomas Bangalter von Daft Punk zusammengebracht. Sie fragten ihn nach all den Regeln, die Daft Punk ständig gebrochen haben, als würden Regeln für die Band nicht gelten. Und Thomas sagte: "Das wirkt nur so. Tatsächlich ist alles immer nur die Summe von vielen, vielen Mikroentscheidungen, die man jeden gottverdammten Tag trifft, ohne sich Gedanken über die Konsequenzen zu machen." Vielleicht ist das die beste Definition einer erfolgreichen Karriere: Es gibt keinen Masterplan, bis es plötzlich so aussieht, als hätte es ihn gegeben.

Nach dem Motto: "Fake it till you make it" - tu so, als seist du jemand, bis du wirklich jemand bist?

Selbstverständlich, ich war ja Barpianist. Barpianisten sind die Personifizierung dieser Idee. Eine betrunkene Hausfrau kommt in der Hotellobby auf dich zu und sagt: "Spiel mir das Chopin-Präludium!" Du fragst: Welches? Und sie fängt an, lallend zu singen. Mein Gott, dann schummelst du eben irgendwas hin, das für sie nah genug an dem dran ist, was sie erkennen will. Ich bin ein großer Fan des Konzeptes. Für mich ist es allerdings nicht negativ konnotiert. Ich würde es nie zynisch benutzen. Wer überzeugend so tun kann, als beherrsche er eine Kunst, hat garantiert seine 10 000 Stunden in sein Handwerk investiert. Für mich bedeutet das Konzept vor allem, all seinen Instinkten zu vertrauen und nicht alles zu zerdenken.

Womit wir wohl beim zentralen Thema des "Gonzervatory" wären.

Allerdings. Ich habe die Teilnehmer ständig unter Druck gesetzt, um ihnen zu zeigen, dass sie ihren Instinkten vertrauen können, und dass daraus viel mehr entstehen kann, als wenn sie sich so richtig schön wohlfühlen und sich einbilden, sie hätten die Kontrolle.

Ein guter Musiker muss die Kontrolle verlieren können?

Nein, nein, ganz im Gegenteil. Vor allem auf der Bühne geht es lediglich um die Illusion, außer Kontrolle zu sein - obwohl man eigentlich die absolute Kontrolle hat. Ich übe neue Songs zum Beispiel jeden Tag. Egal, wie ich mich gerade fühle. Die Songs müssen mir ins Körpergedächtnis übergehen, damit ich auf der Bühne über keine einzige Note mehr nachdenken muss und einfach nur ein Tier sein kann. Darum geht es. Deshalb sprechen wir von "Rampensau" oder im Englischen von "Ham", wenn jemand ein guter Performer ist. Alle Metaphern dafür, auf der Bühne zu stehen, haben mit Tieren zu tun.

Sie bilden also Tiere aus?

Ich bilde Künstler weiter, die auf ihre ganz eigene Art Zugang zum Publikum finden sollen. Das muss nicht unbedingt laut und expressiv sein. Und ich bilde vor allem Musiker aus, die immer von dem werden leben können, was sie tun. Je weiter die Musikindustrie implodiert, desto mehr fällt alles zurück aufs Auftreten, auf Live-Shows. Und wenn ich es schaffe, dass meine Absolventen beinahe jedes Mal einen authentischen Moment mit dem Publikum herstellen können, einfach indem sie ihren tierischen Instinkten vertrauen, dann werden sie immer ein Auskommen haben. Ich rieche, dass ich da etwas auf der Spur bin. Dass ich dabei bin, eine echte Lehrmethode zu entwickeln. Ein bisschen wie Pilates.

Der Ganzkörpertrainingsmethode?

Ja, entwickelt von einem Typen namens Joseph Pilates und mit professionellen Tänzern perfektioniert. Dann wurde es eine Trainingsmethode. Und wenn Sie jetzt Pilates-Lehrer werden wollen, brauchen Sie nur einen Raum und ein paar Geräte. Die Methode steht für sich. Sie trägt seinen Namen, aber sie funktioniert auch ohne ihn.

Sie peilen ein Gonzervatory-Franchise an?

Natürlich muss ich meine Methode dafür noch dokumentieren, sie muss wohl in ein Buch einfließen und vielleicht brauche ich dafür noch fünf bis zehn Jahre. Aber wieso soll denn dann nicht irgendwer sein oder ihr eigenes kleines Gonzervatory gründen? Es geht mir darum, Räume zu eröffnen, in denen Menschen sich selbständig und auf ihre eigene Art entfalten können.

Oha, das klingt fast nach Rudolf-Steiner-Waldorf-Pädagogik.

Steiner ist ein großer Einfluss für mich.

Wirklich?

Natürlich ohne den rassistischen Unsinn. Aber ja: Ich will Entwicklungsräume schaffen, in denen Menschen einen Zugang zu sich selbst finden.

Wie man in den Videos der Unterrichtseinheiten sehen kann, sind Sie dafür aber mitunter doch recht dominant.

Und zwar, um ihnen zu beweisen, dass sie dort mehr Freiheit finden, wo sie sich einschränken müssen.

Das ist nun aber sehr nah an einer recht schlimmen Künstlerphrase.

Von wegen! Der größte Feind der Kreativität ist das Gefühl, alles tun zu können. Wer sehr präzise Anweisungen bekommt, findet echte Freiheit. Deshalb tue ich das. Es ist ein extremer Zugang, aber er funktioniert. Einschränkungen bewahren einen vor existenziellen Fragen: "Ist das wirklich ein Chilly-Gonzales-Song?"- "Warum mache ich das?" - "Warum sind wir überhaupt auf der Welt?" Die großen Fragen können einen paralysieren.

Und von eigenen Instinkten fernhalten?

Genau. Man muss naiv und kindlich bleiben. Ich habe vor ein paar Tagen mit einem Kind gespielt. Es hatte Play-Doh-Spielzeug, durch das man Strom schicken konnte. Irgendwann sagt es: "Oh, wir haben keine weißen Elemente." Ich sah ein paar Gnocchi herumliegen und erinnerte mich aus irgendeinem Grund dran, dass Kartoffeln Strom leiten können. Also packten wir die Gnocchi in die Kette und tatsächlich floss Strom durch. Genau so will ich Musik machen: indem ich mich frage, ob eine Kartoffel Strom leiten kann.

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