Süddeutsche Zeitung

Chilenische Literatur:Bitte kreuzen Sie an

Schlau, poetisch und seltsam berührend: Alejandro Zambras Roman in Form eines Multiple-Choice-Tests stellt die Absurdität stupider Aufnahmetests bloß und konfrontiert den teilnehmenden Leser mit moralischen Konflikten.

Von Birthe Mühlhoff

Es ist ja nicht so, als gäbe es in der Literatur keine Tradition der Fragebögen. Marcel Proust hat Fragebögen entwickelt, die in den Pariser Salons der Jahrhundertwende zirkulierten, und sie - darf man sich den Witz erlauben und sagen: zum Zeitvertreib? - auch immer wieder aufs Neue selbst ausgefüllt. Nicht weniger bekannt, aber etwas abgedrehter sind die Fragebögen von Max Frisch. Mit dem Roman "Multiple Choice" des chilenischen Autors Alejandro Zambra, der ausschließlich aus einem Fragebogen besteht, lässt sich die Zeit etwas weniger gut totschlagen - was daran liegt, dass dieses großartige experimentelle Buch nicht besonders dick ist.

Wen streicht man aus seiner Familie? Den Pädophilen oder den Ungehörigen?

Alejandro Zambra nimmt sich eine zeitgenössischere Form der Evaluation als Vorlage: die 1967 in Chile eingeführte "Prueba de Selección Universitaria" (PSU). Der Aufbau des Buches folgt, so die Vorbemerkung des Autors, der Aufnahmeprüfung für die Universität, wie sie bis 1994 gültig war. Ein Ankreuztest mit 90 Fragen, unterteilt in fünf Abschnitte, die mit zunehmendem Schwierigkeitsgrad das Leseverständnis der Abiturienten abfragen.

Dass hinter den Aufgaben, die Zambra seinen Lesern gibt, mehr steckt als bei herkömmlichen Prüfungen zeigt sich schnell. Wenn unter dem Schlagwort "Kopieren" fünf Worte stehen, aus denen man ein Unpassendes streichen soll, und diese fünf Worte lauten "Ausschneiden, Einfügen, Ausschneiden, Einfügen" und "Rückgängig machen", dann bleibt einem wohl nichts anderes, als sich dem infiniten Regress der Ironie hinzugeben und "Rückgängig machen" anzukreuzen. Und was soll man bitte streichen, wenn unter dem Schlagwort "Familie" die Optionen "Verwandte, Erben, Angehörige, Ungehörige, Pädophile" angeboten werden? Streicht man die Pädophilen raus, bleiben die "Ungehörigen".

Zambra braucht also nur fünf Begriffe, um eine Welt zu skizzieren. "Die kürzeste Entfernung zwischen zwei Punkten ist der Strich einer Narbe." Dieser Satz fällt äußerst beiläufig. Man könnte aber behaupten, dass sich darin Zambras schriftstellerisches Prinzip versteckt: Im Schreiben den kürzesten, den direktesten Ausdruck zu finden, der sich dann als etwas Grundsätzliches, eine Wunde, ein Schnitt, eine Narbe herausstellen muss. Alejandro Zambra ist ein Meister der Knappheit. Schon sein erster Roman "Bonsai" aus dem Jahr 2006 war nur 90 Seiten lang. "Multiple Choice" zählt 109 Seiten, und viele davon sind nur spärlich bedruckt, mit einzelnen Begriffen, die zur Auswahl stehen, oder einzelnen Sätzen, die in eine bessere Reihenfolge zu bringen sind. Was das für eine Herausforderung gewesen sein muss, dieses Buch zu übersetzen! Die Philologin Susanne Lange, die für ihre Übersetzungen aus dem Spanischen mit den höchsten Auszeichnungen geehrt wurde (im vorigen Jahr erschien ihre Neuübersetzung von Don Quijote), verwandelt das scheinbar mühelos.

Dabei ist nicht nur die Knappheit eine Schwierigkeit. Was Zambra vollbringt, ist zum einen eine Verballhornung des Multiple-Choice-Tests in kritischer Absicht und zum anderen eine Art poetischer Verdichtung. Es ist eine (bittere) Satire auf die Idee, dass 90 wohlgesetzte Kreuze über den Verstand und die Fähigkeiten und die Zukunft eines Menschen entscheiden sollen, und eine (tief berührende) Hymne darauf, was der Mensch aus seinem Leben macht. Parodie und Poesie zugleich.

Das haben gute Parodien mit guter Poesie gemein: Wenn sie gut sind, dann sind sie fast schon wieder eine Form von Realismus. Zumindest treffen sie einen real existierenden Nagel auf den Kopf. Mal ehrlich, wer von uns hat in einer Prüfung noch nie auf den Zettel gestarrt, in aufkeimender Panik, während sich die Fragen vor dem inneren Auge verformen. Und wer kennt nicht das Gefühl, dass keine der angebotenen Antwortmöglichkeiten zu passen scheint; dass sie alle gleich aussehen? Wer kennt das nicht, dass man sich von einem Gebrauchstext auf einmal befremdet fühlt, weil er menschliche Schicksale beschreibt?

Für einen Augenblick hängt man den Figuren, die in einer Sachaufgabe verwendet werden, in Gedanken nach. Zum Beispiel dem melancholischen Religionslehrer, der bei Zambra in einer Anwendungsaufgabe auftaucht, und der irgendwann seinen Job an den Nagel hängt und U-Bahn-Fahrer wird und plötzlich das Doppelte verdient. Lehrer hatte er eh nicht werden wollen. Obwohl er jahrelang in der Schule Klassenbester gewesen ist, musste er Religion auf Lehramt studieren, weil er die Aufnahmeprüfung an der Uni vermasselt hat.

Was alles über ein Leben entscheidet: Auch darum geht es. Die Absurdität eines stupiden Aufnahmetests, der aus einem guten Schüler einen Reli-Lehrer macht, der mit Gott hadert, und aus den ausgefuchsten Covarrubias-Zwillingen Luis und Antonio, die in der Prüfung tricksen, erfolgreiche Anwälte. Diese Absurdität ist auch die Absurdität von Chile unter Pinochet. Geboren wurde Zambra 1975, zwei Jahre nach dem von den USA unterstützten Militärputsch. Pinochets Chile verstand sich gut mit katholischen Hardlinern. Chile war ein Land, in dem es, wie es Zambra in einer der kurzen Geschichten beschreibt, bis 2004 keine rechtliche Möglichkeit gab, sich scheiden zu lassen, weshalb man die Ehe stattdessen mit einem aufwendigen Verfahren annullieren lassen musste, indem man Beweise dafür erbrachte, dass man nie zusammengelebt habe.

Immer wenn eine Entscheidung "objektiviert" werden soll, trägt niemand mehr die Verantwortung

"Kreuzen Sie bei den Übungen 55 bis 66 an, welcher der angeführten Sätze oder Abschnitte gestrichen werden kann, weil er keine Information hinzufügt oder in keiner Beziehung zum Text steht." Was als eine ganz normale Aufgabenstellung daherkommt, hat etwas Gewalttätiges, wenn es um Literatur geht. Und schnell ist es auch eine moralische Frage. Soll man den Satz streichen, in dem der Ich-Erzähler sich eingesteht, dass er ein Dreckskerl war? Ist das ein Satz, der dem Text "keine Information hinzufügt" und "in keiner Beziehung zum Text steht"? Was ist das für eine Zusatzinformation zu wissen, dass jemand um seine Schwächen weiß? Man ist aufgerufen, seine Kreuzchen zu setzen, man ist gebeten, die richtige Antwort auszuwählen - und bekommt immer mehr das Gefühl, dass es die "richtige Antwort" vielleicht gar nicht gibt. Hatte man sich extra einen Bleistift geholt, weil man Lust hatte, endlich mal wieder einen scherzhaft gemeinten Fragebogen auszufüllen, entwickelt man spätestens im letzten Kapitel, wenn man für drei Kurzgeschichten den richtigen Interpretationsansatz auswählen soll, eine Scheu, auf diese lapidare Weise über menschliche Schicksale zu urteilen. Immer da, wo eine Entscheidung - wer wird in der Universität aufgenommen und wer nicht - durch einen quantifizierten Test hervorgerufen werden soll, immer da, wo ein Entscheidungsvorgang "objektiviert" werden soll, gibt es am Ende niemanden mehr, der für diese Entscheidung Verantwortung trägt. Was aussieht wie eine wunderbar objektive Vorgehensweise, ist viel zu oft nur der illusionäre Versuch, eine Entscheidung wie von Zauberhand herbeizuführen.

Obwohl dieser Multiple-Choice-Test keine Charakterfragen stellt, führt er in eine immense Beschäftigung mit dem eigenen Selbst. Trotz der geringen Seitenzahl, der rigiden, schlichten Form, berührt "Multiple Choice" auf existenzielle Weise. Das Prinzip erinnert an ein anderes Buch, das auch nur hundert Seiten zählt und auf ähnliche Weise unter die Haut geht: "Autoportrait" von Edouard Levé. Als Claudia Hamm das Buch 2013 ins Deutsche übersetzte, wurde es vielleicht auch deshalb viel zu wenig beachtet, weil Levé da schon seit sechs Jahren tot war und der ganze Rummel, der vom Literaturbetrieb sonst manchmal um interessante Autoren veranstaltet wird, entfiel. Vielleicht war das Buch aber zu eigenwillig: Es enthält nichts als eine Liste mit den Dingen, die Levé in seinem Leben getan oder nicht getan, gemocht oder nicht gemocht hat. Der Anzahl an Frauen, mit denen er geschlafen, und die Anzahl derer, die er geliebt hat. Am Ende legt man das Buch weg und fragt sich, ob man sich soeben in eine Auflistung verliebt hat. In einen Menschen, den man kaum kennt, den man nur kennt über das, worüber er sich den Kopf zerbricht.

In den Geschichten aber, die in Zambras Aufgabentexten erzählt wurden, geht es nicht nur um eine Person, nicht nur um ein Leben. Zumindest von der Anzahl der Kinder, von denen die Rede ist, haut das nicht hin. Hier sind viele Schicksale nebeneinander aufgefächert. Die Grundthemen aber spiegeln sich in ihnen: die Einsamkeit, die Schuld, ein schlechter Sohn und ein schlechter Vater zu sein, gewesen zu sein, die Überlegung, man hätte es anders machen können.

Es ist das, was man eine "Abrechnung" nennt. Immer wieder (und immer öfter?) werden wir aufgefordert, uns selbst wie einen kleinen quantifizierbaren Teil einer Statistik zu begreifen. Man kann Zambras Buch daher auch wie ein Pamphlet lesen: Lasst euch nicht einreden, dass ihr nur die Wahl habt zwischen vorgegebenen Antwortmöglichkeiten! Lasst euch nicht einreden, dass das Leben eines Menschen in einer Punkteanzahl auszudrücken ist! Lasst euch nicht den Blick darauf verstellen, dass hinter jedem Eintrag in einer Datenbank ein Schicksal steckt, ein Mensch mit seiner Geschichte.

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Quelle:
SZ vom 27.11.2018
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