Chemnitz:Der Stolz der Stadt

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Eine Woche nach den Ausschreitungen in Chemnitz versammelten sich am Montag 65 000 Menschen zum Konzert. (Foto: AFP)

Heimat und Herkunft, das zeigen die Künstler beim Konzert in Chemnitz, müssen weder Stigma sein noch Entschuldigung. Heimat will erzählt werden - nicht nur von den Rechten.

Kommentar von Iris Mayer

Am Montagabend löste die Zivilgesellschaft in Chemnitz ein Versprechen ein: Wir sind mehr. Man konnte es hören, als Tote Hosen-Sänger Campino mit Rodrigo "Rod" González von den Ärzten deren Song "Schrei nach Liebe" ins Mikrofon brüllte. Man konnte es sehen, an den 65 000 Menschen, die gekommen waren. Aber wichtiger noch: Man konnte es fühlen. Chemnitz konnte es fühlen. Nach acht dunklen Tagen, in denen hasserfüllte Rechtsradikale Stimmung und Schlagzeilen bestimmten und ein ganzes Land über das vermeintliche oder tatsächliche Versagen von Politik und Polizei stritt, wurde die Mehrheit endlich laut.

Das ist nur ein Anfang, keine Frage. Aber was für einer! Es war wichtig, dass der Anstoß aus dem Herzen der Stadt kam, von der Band Kraftklub, die innerhalb von zwölf Stunden ein Benefizkonzert zusammentelefonierte. Kraftklub sind Kinder der Stadt, mit Songzeilen wie "Ich komm aus Karl-Marx-Stadt, bin ein Verlierer, Baby, original Ostler!" transportieren sie eine Emotion, die sich leichter teilen lässt als ein politischer Standpunkt.

Es wäre so viel gewonnen für dieses zerrissene Chemnitz, könnten sich seine Bewohner erst einmal auf die Sorge um ihre Stadt verständigen. Und dann erst streiten, ob kriminelle Ausländer oder kriminelle Rechtsradikale der Grund ihrer Sorge sind. Darüber kann man ins Gespräch kommen. Fürs Erste ist nach dieser dunklen Woche aber auch schon viel gewonnen, wenn Zehntausende auf der Straße und in Livestreams zuhören, wenn Rapper Trettmann, aufgewachsen im Plattenbaugebiet Fritz Heckert, reimt: "Fast hinter jeder Tür lauert ein Abgrund. Nur damit du weißt, wo ich herkomm."

Heimat und Herkunft, das zeigen die Künstler von hier, müssen weder Stigma sein noch Entschuldigung. Heimat will erzählt werden. Und Musik aus der Heimat muss niemanden volkstümlich in Heile-Welt-Geiselhaft nehmen wie bei Hansi Hinterseer oder Carmen Nebel. Musik aus der Heimat kann verbinden, egal ob man noch dort lebt oder in einer Stadt, in der nicht hinter jeder Tür ein Abgrund lauert.

Kraftklub und Trettmann sind auch dann noch in Chemnitz, wenn sich die Fans von Toten Hosen und Ärzten längst wieder darüber streiten, welche der beiden die beste Band der Welt ist. Sie sind es, die den Chemnitzern Mut machen, Herz zu zeigen. Und sie haben verstanden, dass es nicht nur um Solidarität (Wir sind dabei) und Selbstvergewisserung (Wir haben recht und wir sind mehr) geht, sondern um Kontinuität. Kraftklub spielen an den kommenden drei Montagen wieder in Chemnitz.

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