Süddeutsche Zeitung

Charlotte Roche: "Feuchtgebiete":Hygiene wird bei mir kleingeschrieben

Comedy total: In "Feuchtgebiete" erschuf Charlotte Roche ein Monstrum, das der übermächtigen und hyperperfekten Heidi-Klum-Welt trotzt.

Lothar Müller

In den Jahren 2005 und 2006 tourte die Fernsehmoderatorin Charlotte Roche, deren Musiksendung "Fast Forward" vom Sender VIVA Ende 2004 abgesetzt worden war, unter wechselnder Begleitung männlicher Schauspieler durchs Land. Ihr war, darf man vermuten, als PDF-Datei im Internet (denn die gibt es) eine Dissertation der Urologischen Poliklinik rechts der Isar der Technischen Universität München aus dem Jahr 1978 in die Hände gefallen. Charlotte Roche collagierte aus dieser Dissertation einen Text, mit dem sie Heiterkeitserfolge erzielte, denen - zumal im männlichen Publikum - ein mehr oder weniger leichter Hauch von Unwohlsein beigemischt war.

Staubsauger-Vertreter

Die Dissertation trug den Titel "Penisverletzungen bei Masturbation mit Staubsaugern" und berichtete über 16 Fälle aus den Jahren 1966 bis 1972, in denen Männern verschiedenen Alters der "Kobold"-Staubsauger der Firma Vorwerk & Co. zum Verhängnis geworden war:

"Wie die eingehende Exploration einiger Patienten ergeben hat, führen die Patienten den nicht erigierten Penis in den Ansaugstutzen ein (in erigiertem Zustand ist dies nicht möglich). Durch den Luftstrom wird der Penis in Vibration versetzt und erigiert. Mit zunehmender Erektion wird der Sog stärker, und schließlich wird der ganze Staubsauger an den Unterleib gepresst und der Penis völlig in den Ansaugstutzen gezogen. In diesem Augenblick kommt er mit dem rotierenden Propeller in Berührung und wird, je nach Motorisierung und Schnelligkeit des Abwehrreflexes, der Länge und dem Erektionszustand unterschiedlich traumatisiert."

Für die Traumatisierung und die Ausmaße der unfreiwilligen Selbstverstümmelungen bringt die Dissertation eindrucksvolle Belege. Charlotte Roche aber hatte für ihren Leseabend etwas anderes im Auge: das komische Potential der Nüchternheit und Präzision, die wissenschaftliche Beschreibungsprosa auch im Blick auf groteske Verwundungen aufzubringen vermag. Und das komische Potential der Erklärungen, die die Patienten, um ihre Verletzungen plausibel zu machen, den Ärzten vortrugen.

Groteske Verwundungen

Ihre Idee war einfach, aber doppelt gestrickt: Zum einen lebte das Rezitationsprogramm von der Ausdehnung des im deutschen Fernsehen altehrwürdigen Formats "Pleiten, Pech und Pannen" auf das Feld der Sexunfälle. Zum anderen machte es sich eine Technik zunutze, die etwa Harald Schmidt in seiner Late Night Show immer wieder erfolgreich angewandt hatte, wenn er per Zitat scheinbar weit entfernte Kultursphären miteinander verkuppelte, also etwa Kants Begriffsarchitektur in der "Kritik der reinen Vernunft" nachbaute oder klassische Dramen mit Playmobil-Figuren nachspielte.

In diesem Frühjahr macht Charlotte Roche mit dem zur Leipziger Buchmesse erschienenen Roman "Feuchtgebiete" (DuMont Buchverlag, Köln 2008. 220 Seiten, 14,90 Euro) Furore. Innerhalb von vier Wochen sind 400 000 Exemplare verkauft worden, auf der Spiegel-Bestsellerliste belegt das Buch in der Rubrik Belletristik den ersten Platz. Selbst im internationalen Internethandel belegt es, obwohl bisher noch nicht in andere Sprachen übersetzt, beim Anbieter Amazon in mehreren Ländern den Spitzenplatz.

Im deutschen Fernsehen gibt es kaum eine Talkshow, in der sie nicht schon zu Gast war. Und weil hier eine versierte und vielfach ausgezeichnete Fernsehmoderatorin einen Bestseller gelandet hat, liegt die Versuchung nahe, den Erfolg des Buches vor allem der Medienpräsenz der Autorin zuzuschreiben - und dem Prinzip "Sex sells".

Denn der Titel "Feuchtgebiete" des knallig tiefrosa gewandeten Buches spielt zwar auch mit der Assoziation an den tropischen Regenwald, verspricht aber vor allem die Erkundung der Feuchtgebiete, Ausscheidungen und Flüssigkeiten des weiblichen Körpers. Aber der Roman, der aus dieser Feier des Feuchten erwächst, hat mit Büchern wie "Das Delta der Venus", in denen einst Anaïs Nin das Über-die-Ufer-Treten der weiblichen Sexualität beschwor, wenig zu tun.

Denn Charlotte Roche hat für den Plot ihres Romans das Comedy-Prinzip ihres Rezitationsabends über die Männer und den Staubsauger "Kobold" beibehalten. Ihre Heldin, die 18-jährige Schülerin Helen Memel, ist mit den "Pleiten, Pech und Pannen"-Helden aus der Welt der Sexunfälle verwandt. Sie leidet von Kindheit an unter Hämorrhoiden und liegt im Krankenhaus, weil sie sich bei der Intimrasur im Analbereich selbst verletzt hat.

Lob des schmutzigen Körpers

Aber sie ist mit ihrer Wunde und in ihrem Krankenhausbett nicht die Dumme und wird auch nicht in eine Parodie wissenschaftlicher Prosa verpackt. Anders als die verschämten Männer in der Staubsauger-Rezitation ist die junge Ich-Erzählerin des Romans ein gänzlich schamloses Plappermaul. Mit den Staubsauger-Vertretern hat sie allenfalls die Grundgesetze der Werbesprache, die Rhetorik des Anpreisens gemein. Denn sie hat eine Botschaft. Und diese Botschaft heißt: Nichts geht über Analsex, und nichts ist bekämpfenswerter als der Terror der "Hygienefanatiker".

Von der Comedy-Welt übernimmt das schamlose Plappermaul die Neigung zu Anekdote, Sketch, Kalauer und Pointe und als deren ideales Biotop die Krankenhauswelt, in der sich alles um den Körper dreht.

Doch mit ihrer Botschaft ist es der Heldin bitter ernst. Auf dem Umschlag des Buches steht: "Hygiene wird bei mir kleingeschrieben."Und im Buch nimmt der Aufstand gegen die Konventionen der Hygiene im Intimbereich das einschmeichelnde Genre der Ratgeber-Literatur in seinen Dienst. In dem kennerschaftlichen Ton, in dem sich früher Hausfrauen Geheimrezepte beim Einkochen von Äpfeln zugeflüstert haben mögen, gibt hier die junge Heldin Tipps für die möglichst effektive Konservierung des Eigengeruchs der Geschlechts- und Ausscheidungsorgane.

Über nichts jauchzt sie mehr, als wenn es ihr gelingt, dem Kampf der Mitmenschen - sie ist im Krankenhaus - und zumal der eigenen Mutter gegen Schmutz und Ansteckungsgefahren ein Schnippchen zu schlagen und mittels der eigenen Ausscheidungen möglichst viele Bakterien durch die Umwelt zirkulieren zu lassen. Schon dass man sich überhaupt wäscht, fällt bei ihr unter die Rubrik Waschzwang.

Helen Memel, nicht eben subtil nach dem Urbild irdischer weiblicher Schönheit benannt, ist als lustvoll sich selbst feierndes Monstrum konstruiert, das alle Schwellen des Ekels und der Peinlichkeit übertritt, die als Errungenschaften im Prozess der Zivilisation gelten. Und die Schöpferin dieses Monstrums - feiert einen der größten Verkaufserfolge in der jüngeren Geschichte des deutschen Buchmarktes.

Das neue Parfüm

Es gab schon einmal ein auf Gerüche spezialisiertes Monstrum in der deutschen Bestsellerwelt: Jean-Baptist Grenouille, den Helden in Patrick Süskinds 1985 erschienenem Roman "Das Parfüm". Grenouille erschien seiner Amme als Teufelskind, weil er ihr als geruchslos erschien. Umso ausgeprägter war dann später seine feine Nase. Kein Mädchenduft entging ihr, und kein duftendes Mädchen entging Grenouille, wenn er auf der Suche nach dem Stoff für die Schaffung eines neuen Parfüms war.

Grenouille vernichtete die Körper der Mädchen, um ihren Duft seinen Essenzen zuzuführen. Er war als Allegorie des Genies und Schöpfer des vollkommenen Kunstwerks, das aus der Zerstörung der Natur erwächst, ebenfalls ein nicht sehr subtil konstruiertes Monster. Aber er besaß einen großen Vorzug: Er verknüpfte die Hohlform des Künstlerromans mit einer ungeheuren Aufwertung des traditionell niedersten aller Sinne, des Geruchssinns. Auch darum kam er als ein Bastard, der nach seiner Geburt aus stinkenden Fischköpfen hervorgezogen wurde, in die feine Welt seiner Kunden.

Charlotte Roche hat ihrem Anti-Parfüm-Roman, der den Eigengeruch des Körpers und die darin enthaltene sexuelle Attraktion als das beste Parfüm feiert, eine melodramatische Maske übergeworfen. Die junge Helen ist ein Scheidungskind, das partout ihre Eltern wieder zusammenbringen will, und zwar im Krankenhaus, in Sorge um die gemeinsame Tochter vereint und versöhnt. Darum muss sie mit derb-drastischen Mitteln ihre Wunde möglichst lange offenlassen: Ihre Selbstverstümmelung ist aus der Sehnsucht des Scheidungskindes nach der heilen Familie geboren.

Möglichst rabiat

Wenn irgendwo das Erfolgsgeheimnis dieses anti-hygienischen Romans liegt, dann gewiss nicht in diesem Familienmelodram, an dessen Ende das Happy End der Tochter mit dem verständnisvollen Pfleger Robin steht. Denn man muss dem Plappermaul dieses Scheidungskindes nicht lange zuhören, um zu begreifen: Es leidet in Wahrheit nicht an seinen Eltern. Es leidet an Heidi Klum. Es ist von seiner dreißigjährigen Autorin eigens als obszöne 18-Jährige erfunden worden, um den Mädchen, die nach Castingshows wie "Deutschland sucht das Supermodel" anstehen, eine möglichst rabiate Gegenfigur anzubieten.

Das Comedy-Format der Bekenntnisse eines unhygienischen Monstrums hat deshalb mit der Literatur der sexuellen Entgrenzung und Verausgabung, mit der Anbetung des Eros von de Sade bis George Bataille wenig zu tun. Nur beiläufig, wie ein müde-gelangweilter Barpianist, klimpert Charlotte Roche, wenn ihre Heldin gegen die scheinheilige Mutter und die Kruzifixe im katholischen Krankenhaus wettert, auf der Klaviatur der Blasphemie. Und literarischen Glanz strahlt die schlichte, neckische Prosa dieses Romans schon gar nicht aus.

Dafür umso mehr polemische Energie gegen die Heidi-Klum-Welt, gegen die reine, schöne Körperoberfläche. Zu allem gibt es bei Charlotte Roche das monströse Gegenstück: zu den langen Wimpern, zum Kult des Kopfhaars in der Werbefotografie, zur weiblichen Rasur der Achseln, zu den kalkulierten Effekten der Ausstellung des eigenen Körpers.

Es mag sein, dass zum Erfolg dieses Buches auch sein Kokettieren mit den marktgängigen Sexratgebern beiträgt. Aber wie man als Frau am besten mit Duschköpfen masturbieren kann, ließe sich wahrscheinlich notfalls auch anderswo erfahren. Und womöglich findet die grob-radikale Propaganda für das Ungewaschensein weniger Nachahmerinnen, als die kulturkritische Sorge befürchten mag. Sie ist im Übrigen eher notdürftig in einen Ich-auch-Feminismus eingebettet, der die traditionell männliche Domäne zwischen laxer Hygiene und forcierter Unsauberkeit erobern will.

Das Lachen über den Anti-Parfüm-Roman, zumal wenn die Autorin ihn in einer ihrer Lesungen vorstellt, ist halb peinliches Berührtsein, halb Genuss an der polemischen Energie. Der Druck der Heidi-Klum-Welt muss schon sehr stark sein, wenn ihm ein solch überkandidelter Comedy-Auftritt des schmutzigen Körpers so erfolgreich als Polemik gegenübertritt.

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Quelle:
SZ vom 16.4.2008/rus
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