Argentinische Literatur:Das Geheimnis der Brillenbügel

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Die "Distanzierungsmaschine" Literatur löst Identifikationen auf: César Aira in Buenos Aires. (Foto: dpa)

Hinaus aus der Banalität des Realen: Neues von dem argentinischen Schriftsteller César Aira.

Von Karin Janker

Manchmal, wenn man allzu sehr um sich selbst kreist, ist es gut, ein Gegenüber zu haben, das einen herausholt aus diesem Strudel. So ist es derzeit auch in der Literatur. Seit die realistische Ich-Fiktion, das Genre des Memoir, in Mode gekommen ist, sind Bücher, die der Versuchung von Nabelschau und Identifikation widerstehen, umso bedeutsamer. Als besonders wohltuend gegen das ermüdende Kreisen der Autofiktionen erweist sich die Lektüre von César Aira.

Der argentinische Autor, der gerade 70 Jahre alt geworden ist, schreibt Bücher, die auf den Intellekt wirken wie Reflexzonenmassagen. Hinterher kann sich, wer mag, ja wieder einschmiegen in die Erzählungen von Karl Ove Knausgård, Édouard Louis, Sheila Heti, Chris Kraus oder Thomas Melle, die den Wirklichkeitshunger ihres Publikums befriedigen. "Warum haben Romanautoren aufgehört, sich Dinge auszudenken?", fragte der Guardian vor Kurzem mit Blick auf diese und ähnliche Autoren. Die Antwort liegt irgendwo zwischen alten Emanzipationsbewegungen und der neuen Überforderung des Einzelnen durch Instagram und Facebook. Fest steht: So viel Ich wie heute war nie.

César Aira positioniert sich klar gegen diesen Druck. Er möge die Konzentration auf das Ich nicht, sagte er in einem Interview mit der Zeitschrift Merkur, es gehe in den Autofiktionen ja doch "fiktionalisiert oder nicht" nur um "ein einziges Leben. Vielleicht liegt es am Computer, wo du so schnell schreiben musst, dass dir keine Zeit mehr bleibt zu erfinden, also musst du auf dich selbst zurückkommen, auf deine Meinungen, deine persönlichen Dinge". Die Rhetorik des "Ich finde dies, ich finde das" nervt ihn spürbar.

Airas eigene literarische Form liegt zwischen Narration und Essay, Kritiker tun sich schwer, sein Schreiben einzuordnen: "Surrealistisch" sei es oder "wie auf LSD" oder schlicht "unklassifizierbar". Dabei folgt Aira seinem Vorbild Jorge Luis Borges, der 1940 Marcel Prousts "Recherche", einen der Gründungstexte heutiger Autofiktionen, als allzu alltägliches, bloß realistisches Geplänkel kritisierte.

Was nicht heißt, dass Aira nicht auch manchmal "Ich" schreiben würde. In "Was habe ich gelacht", das in Argentinien 2005 erschienen ist und nun auf Deutsch gleichzeitig mit "Das Testament des Zauberers Tenor" erscheint, wagt er sich noch weiter ins Autofiktionale als sonst. Allerdings nur, um dessen hohldrehendes Moment der Selbstbespiegelung offenzulegen. Liest man die beiden neuen Bände parallel oder kurz nacheinander, was aufgrund des wie immer geringen Umfangs problemlos gelingt, ergibt sich in der Verschränkung der Romane eine dichte Poetologie. Hinterher begreift man Airas Texte besser - und will die bisher bei Matthes & Seitz erschienenen sieben Bände der "Bibliothek César Aira" gleich noch einmal lesen.

"Was habe ich gelacht" beginnt als Lamento des Ich-Erzählers, der von seinen Lesern ständig zu hören bekomme, sie hätten beim Lesen sehr gelacht. Dieses "gottverdammte Lachen" führt ihn zurück in seine Jugend, als Anekdoten mit immer derselben Floskel endeten: "Cómo me reí", was habe ich gelacht. Doch statt in Richtung des eigenen Bauchnabels zu schielen und alte Schnurren, etwa von einer ersten Liebe, zu erzählen, legt Aira, getarnt als Autobiograf, seine Poetik dar: "Die viel beschworene Identifikation ist eine Täuschung, denn wir leben identifiziert und lesen, um uns zu desidentifizieren." Für César Aira ist Literatur eine "Distanzierungsmaschine".

Der zweite Roman "Das Testament des Zauberers Tenor" macht dieses Programm noch deutlicher. Hier schlägt der Protagonist erstmals seit Langem ein Buch auf: Lesen, "diese reputierliche, für ihn so ungewohnte Tätigkeit, der die Zivilisation alles oder fast alles zu verdanken hatte", erlebt dieser Leser als Denken - "aber nicht sein eigenes". Zu lesen, "gestattete ihm auf Distanz zu gehen und in einem Tanz sich verändernder Perspektiven zu sehen, wie viel in dieser Distanz enthalten war. Hatte er bislang geglaubt, er sähe alles, merkte er nun, wie sehr er sich getäuscht hatte." Aira ist, wie könnte es anders sein, ein großer Leser. Quasi wöchentlich schleppt er gebrauchte Bücher zwischen seiner Wohnung und den Buchläden in Buenos Aires hin und her. Weil er nicht noch mehr Bücher horten will, gibt er welche weg, wenn er sich neue besorgt. Seine Bibliothek ist dennoch überbordend. Vom Lesen kommt er zum Schreiben, kunstvoll verwebt er Erlebtes und Gelesenes mit Fantasiegebilden. "Der Zufall rechtfertigt alles", heißt es in "Was habe ich gelacht".

Aira schreibt, das erzählte er 2016 am Rande des Berliner Literaturfestivals, jeden Tag, aber sehr langsam. Mehr als 100 Bücher sind so bereits entstanden. Mit einem Füllfederhalter trägt er die Sätze in ein Heft ein, so gut wie immer sitzt er dabei in einem Café in Flores, seinem Stadtviertel in Buenos Aires. Korrigiert wird hinterher so gut wie nichts mehr, auch vorher skizziert er keine Handlungsverläufe oder Figuren. Seine Methode nutzt die dadaistische Idee des objet trouvé und den Zufall. Für Aira ist das objet trouvé, das vorgefundene Objekt, Motor des Schreibens: Was ihm begegnet oder einfällt, saugt er in seine Erzählungen, die damit Assemblagen ähneln.

Eingang in die Literatur findet auf diese Weise etwa das Rad eines Einkaufswagens, das im "Zauberer Tenor" einem Männchen zum Bügeln der Wäsche dient: "An der Achse des Rädchens befestigte er zwei Brillenbügel, einen an jeder Seite, an die Enden klebte er mit Sekundenkleber jeweils einen Plastikbecher als Steigbügel. Die Oberfläche des Reifens tauchte er in flüssiges Platin, das er, mit Zahnstochern gespickt, aushärten ließ. Nach dem Entfernen der Zahnstocher blieben winzige Löcher zurück, wodurch die von der Reibung der Achsen erzeugte Wärme entweichen konnte. Zum Bügeln setzte er die Füße in die Becher, begann tüchtig zu strampeln und radelte, durch die Geschwindigkeit im Gleichgewicht, über Bettlaken und Tuniken, die Rennbahnen für ihn waren."

Rasante Fiktionen entwickeln sich, weil der Autor ihnen Zeit zu wachsen gibt. Vielleicht ist etwas dran an Airas Zeitdiagnose, dass man am Computer weniger erfinderisch dichtet, weil der einen zum Schnellschreiben nötigt. Lesererwartungen jedenfalls haut der Argentinier im Nu kurz und klein. Atemlos liest man diese aberwitzigen Einfälle, folgt der Handlung, wie sie ihre Haken schlägt. Und wird belohnt: mit einer Literatur, die einen fortträgt, hinaus aus der Banalität der Realität. Gegen einen Zeitgeist, der ständig auf das Bohren im eigenen Bauchnabel aus ist, bietet Aira die süßeste Form der Subversion.

César Aira: Was habe ich gelacht. Roman. Aus dem Spanischen von Christian Hansen. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2019. 92 S., 16 Euro

César Aira: Das Testament des Zauberers Tenor. Roman. Aus dem Spanischen von Christian Hansen. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2019. 168 S., 18 Euro

© SZ vom 26.02.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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