Cemile Sahin: "Alle Hunde sterben":Ganz schön dialektisch

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Neun Menschen, neun Geschichten, neun Varianten von Staatsterrorismus: Mit "Alle Hunde sterben" tritt die Künstlerin Cemile zum zweiten Mal im Literaturbetrieb auf.

Von Insa Wilke

Cemile Sahin: Alle Hunde sterben. Aufbau Verlag, Berlin 2020, 239 Seiten, 20 Euro. (Foto: N/A)

Vom deutschen Buchmarkt hält Cemile Sahin nicht viel. "Super-konservativ" sei der, sagte die Künstlerin im Januar im Spex-Podcast. In ihren Büchern sind die Dinge nicht kompliziert. Es gibt die einen, und es gibt die anderen: Gegner. Das kommt gut an. Erst im vergangenen Herbst erschien Sahins Debüt "Taxi" im Korbinian-Verlag, schon wird ihr am 5. November die Mainzer Akademie für Wissenschaften und Literatur die Alfred-Döblin-Medaille verleihen. Willkommen im Establishment.

Sahins zweites Buch, "Alle Hunde sterben", wird von vielen als Versuch gelesen, Gewalt eine Sprache zu geben. Es spielt in einem Hochhaus im Westen eines Landes, in das sich Menschen aus dem Osten desselben Landes gerettet haben. Vertrieben von einem Staat, der sie kollektiv unter Terrorverdacht stellt, um so die eigenen Praktiken von Verfolgung, Folter und Gewalt zu legitimieren. In neun Monologen lässt Sahin neun Menschen ihr Schicksal erzählen. Neun Varianten von Staatsterrorismus. Eine rot eingefärbte Seite und die unscharfe Schwarz-Weiß-Aufnahme eines menschenleeren Parkdecks trennen die Episoden auf die immer gleiche Weise. Einziger Unterschied: die angegebene (englische) Uhrzeit.

Eine Syntax wie das Knallen von Stiefelabsätzen, ein provokativer Beat

Cemile Sahin ist Kurdin. Nach ihrer Geburt 1990 in Wiesbaden zogen die Eltern mit ihr für vier Jahre nach Dersim. Der Name ist ein Symbol für das kurdische Trauma, für Massaker und Zwangsumsiedlung, für kulturelle Unterdrückung und für Widerstand. Die Armenier, die Kurden, der Umgang mit Oppositionellen: Doğan Akhanlı, dessen leider noch nicht übersetzter Roman "Fasıl" auf, zu Sahin genau gegensätzliche, Weise Foltererfahrung literarisch verarbeitet, spricht in seinem unbedingt lesenswerten Buch "Verhaftung in Granada" (Kiepenheuer & Witsch) von einer fatalen, für alle toxischen Gedächtnislücke der türkischen Gesellschaft.

Auch wenn man die Geschichten in Sahins Buch nicht auf die Situation der Kurdinnen und Kurden bezieht, lässt sich "Alle Hunde sterben" passend zur politisch klar positionierten Kolumne "Orient Express", die Sahin bis zum Sommer gemeinsam mit der Autorin Ronya Othmann für die taz schrieb, als erinnerungspolitisches Mahnmal, als aktivistischer Appell lesen.

Liest man das Buch aber so, muss man sagen: Literarisch gelungen ist es nicht. Zu plakativ die Schockmomente: "Er legte mir ein Hundehalsband um. Das Ende der Kette wickelte er zweimal um ein Stück Holz und hämmerte es in die Erde neben der Hütte. Dann quetschte er mich in die Hundehütte."

Zu unklar, ob hier Zeugnis abgelegt werden soll oder Zeugnisse erfunden werden. Zu schlicht Aussagen wie: "Im Gefängnis vergessen die Wärter, dass sie Menschen sind und sie vergessen, dass die Gefangenen Menschen sind." Und zu ignorant Sahins Gestus der langen Tradition gegenüber, wenn es um das Erzählen von Folter und Gewalt geht und damit übrigens auch den Betroffenen gegenüber, deren Individualität durch die Sprache der Autorin eingeebnet wird.

Nun versteht sich Cemile Sahin aber dezidiert nicht als Autorin. In London und Berlin hat sie Kunst studiert. Auf welche Spur führt es einen also, wenn man das Buch nicht als Buch sieht, und die Geschichten, die es erzählt, nicht als Geschichte. Eine günstige Gelegenheit, einen anderen Blickwinkel einzunehmen: Cemile Sahin ist eine von über 100 Berliner Künstlerinnen und Künstlern, denen das durch Covid-19 lahmgelegte Berghain die Tore geöffnet hat. Ganz ohne Museumsarchitektur und quasi ohne spezielle Beleuchtung fügen sich hier unter dem Titel "Studio Berlin" Arbeiten aus den Ateliers der Berliner Bohème in die Industriearchitektur des Kult-Clubs am Ostbahnhof. Schwerpunkt: konzeptuelle Kunst.

Betritt man den Club unter dem vom Aktionskünstler Rirkrit Tiravanija ausgerufenen Motto "Morgen ist die Frage", drückt sich im Foyer an den kreischenden Fragmenten von Norbert Bisky vorbei und betritt den schummrigen, zur Tanzfläche drüber offenen Vorraum, wogt über einem eine verrostete Atlantik-Boje im original nachgebildeten Rhythmus des Seegangs: Julius von Bismarck verbeugt sich mit den stummen, aber durch die Soundscape des nigerianischen Klangkünstlers Emeka Ogboh unterlegten Meeres-Vibes vor dem still gestellten Berghain und kommentiert so Lockdown, Klimakrise und Asylpolitik. Die Verbindung von ästhetischem und kritischem Bewusstsein setzt den Ton für den Rundgang, an dessen Ende man in die große Halle hinter der Berghain-Bar geführt wird.

Hier soll jetzt auch die Arbeit von Cemile Sahin zu sehen sein. Der Blick wird erst mal von Julian Charrières brennendem Brunnen gefangen. Eine Videoarbeit, die die Halle dominiert und mit der Boje draußen korrespondiert. Man geht eine Stahltreppe runter und darauf zu und wird schließlich ins Untergeschoss vor eine weitere Leinwand geführt, auf der sich eine federleichte, weiße Decke auf ein hellblau leuchtendes Schwimmbad der Berliner Bäderbetriebe absenkt. Das sei die Arbeit von Cemile Sahin, heißt es. Man steht und staunt: "Taxi" und "Alle Hunde sterben" charakterisiert eine Syntax wie das Knallen von Stiefelabsätzen, ein aggressiver, fordernder und provokativer Beat. Und jetzt diese Lautlosigkeit in Hellblau? Ganz schön dialektisch.

Tatsächlich stammt das schöne Schweben von Shirin Sabahi. Cemile Sahins Arbeit hängt direkt über der Treppe, die in die Halle führt. Weil der Blick vom brennenden Brunnen festgehalten wurde, läuft man an "Alle Hunde sterben, 2020 9 prints on alu dibond" erst mal blind vorbei. An grobgliedrigen Stahlketten hängen die neun identischen Parkdecks mit den unterschiedlichen Uhrzeiten, die auch das Buch strukturieren. Sahin müsste die Verwechslung gefallen, denn was so deutlich wird, ist die Frage: Was seht ihr, wenn behauptet wird, Sabahis Arbeit sei die von Sahin? Und was seht ihr nicht, wenn ein brennender Brunnen den Blick lenkt? Was sagen euch diese neunmal gleichen Parkdeck-Situationen, die an Kriminalfilme oder Überwachungsvideos erinnern, wenn unterschiedliche Uhrzeiten daneben stehen? Und was haben die schein-dokumentarischen Monologe ("Schreiben Sie das auf.") formal mit den Parkdecks gemein? Nun, das Schematische, wie es Murat, eine von Sahins Figuren formuliert: "Soldaten machen Hetzjagd auf uns, in Straßen, in Wohnungen. (...) Das versteht jeder. Das ist unmittelbar. Damit beginnt eine Geschichte." Wie schon in "Taxi" geht es um die Frage, wie Narrative, oder sagen wir: Erwartungen die Wirklichkeit manipulieren. Nur, dass "Alle Hunde sterben" diese Frage direkt den Lesenden stellt, ohne zwischengeschaltete Guckkastenbühne der Fiktion.

Das ist immer noch plakativ, vielleicht auch etwas banal. Aber dieser Blickwinkel gibt auch dem Text einen Twist, der ihn wegrückt vom Anspruch der Dokumentation und hin zu dem der Reflexion, welcher Gewalterfahrung Gültigkeit zugesprochen wird, weil sie ins Narrativ passt. Und welcher nicht. Dass diese Reflexion nötig ist, zeigt die Rezeption von "Alle Hunde sterben".

© SZ vom 13.10.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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