Antisemitismus-Vorwürfe:Rückzieher einer Jury

Antisemitismus-Vorwürfe: Die britische Dramatikerin Caryl Churchill bei den "Writers' Guild Awards 2018" in London.

Die britische Dramatikerin Caryl Churchill bei den "Writers' Guild Awards 2018" in London.

(Foto: David M. Benett/Dave Benett/Getty Images)

Caryl Churchill erhält den "Europäischen Dramatiker:innen Preis" doch nicht. Der Grund: ihre BDS-Nähe.

Von Christine Dössel

Eigentlich sollte die britische Autorin Caryl Churchill in diesem Monat mit dem "Europäischen Dramatiker:innen Preis 2022" ausgezeichnet werden: 75 000 Euro als Würdigung für ihr Gesamtwerk - eine hoch dotierte Auszeichnung, vergeben vom Schauspiel Stuttgart, gefördert vom Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg. Nach Antisemitismusvorwürfen wird der englischen Dramatikerin der Preis nun jedoch wieder aberkannt, wie das Schauspiel Stuttgart mitteilt. Die Jury, die sich im April für die 84-Jährige als Preisträgerin entschieden hatte, habe nach erneuter Beratung beschlossen, "ihre Entscheidung zurückzuziehen" und den Preis "zu ihrem großen Bedauern" in diesem Jahr nicht zu verleihen. Der Grund: Die Jury habe inzwischen Kenntnis von Unterschriften der Autorin im Zusammenhang mit der Israel-Boykottbewegung BDS. Außerdem gebe es von Churchill das Stück "Seven Jewish Children", das antisemitisch wirken könne - wie die Jury nun offenbar erst im Nachhinein herausgefunden hat. Das Mini-Stück (mit dem Untertitel "A Play for Gaza") ist von 2009. Der Autorin, einer erklärten Unterstützerin der Palästina-Solidaritätskampagne, wurden dafür schon damals Antisemitismus-Vorwürfe gemacht.

Wegen ihrer Nähe zur israelfeindlichen Boykottbewegung BDS ("Boycott, Divestment and Sanctions") sind zuletzt auch die französische Schriftstellerin und diesjährige Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux und der britische Musiker und Pink Floyd-Mitbegründer Roger Waters in die Kritik geraten. Es gibt Forderungen, die für 2023 geplanten Konzerte von Waters in München und Hessen abzusagen. Von Annie Ernaux, deren Ehrung auf viel Beifall stieß, wird von vielen zumindest eine erklärende Rede erwartet, wenn sie im Dezember in Stockholm den Literaturnobelpreis entgegennimmt.

Die Jury beruft sich darauf, zuvor nicht ausreichend informiert gewesen zu sein

Die vom Schauspiel Stuttgart eingesetzte Jury für den Dramatikpreis beruft sich nun bei dessen Rücknahme auf Informationen, die ihr zuvor nicht vorgelegen hätten. Man könnte auch sagen: die sie nicht recherchiert hat. Die Jury reagiert damit auf Kritik an Caryl Churchill, die der journalistische Blog "Ruhrbarone" vorgebracht hat und die Anfang der Woche auch Volker Beck aufgriff, der Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft. Dieser forderte den baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann auf, die Schirmherrschaft für den "Europäischen Dramatiker:innen Preis" zurückzugeben. Der hoch dotierte Preis wurde erst vor zwei Jahren als Prestige-Auszeichnung des Stuttgarter Schauspiels ins Leben gerufen und soll alle zwei Jahre verliehen werden. Beim ersten Mal, 2020, ging er an den libanesisch-kanadischen Autor und Regisseur Wajdi Mouawad.

Caryl Churchill hätte den Preis am 20. November im Schauspiel Stuttgart entgegennehmen sollen. "Churchill greift gesellschaftliche, humane, wissenschaftliche und politische Fragestellungen auf", hieß es in der ursprünglichen Jurybegründung, und weiter: "In ihren zahlreichen Stücken hat sie unterschiedliche Machtstrukturen scharf herausgearbeitet." Der Jury unter Vorsitz des Publizisten Peter Michalzik gehören die Intendantin des Straßburger Theaters Maillon, Barbara Engelhardt, der Theaterkritiker der Zeit, Peter Kümmel, der künstlerische Leiter der Berliner Schaubühne, Thomas Ostermeier, sowie die Ministerin für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg, Petra Olschowski, an.

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