Ein hagerer Körper mit Dornenkrone, der auf einem Sarg sitzt. Die ausgemergelte Gestalt ist übersät von blutenden Wundmalen, mühsam wird sie gestützt von drei weinenden Engeln. Wo Giacomo Del Mainos filigrane Holzskulptur "Cristo in Pietà sostenuto da Angeli" von 1490 einst stand, wissen die Fachleute bis heute nicht, wahrscheinlich zierte sie einen Altar.
Doch wer dem Schmerzensmann des lombardischen Bildhauers dieser Tage im Kunstmuseum Castello di Rivoli vor den Toren Turins gegenübersteht, trifft der Schock einer universellen Pathosformel, deren Echo bis in unsere Kriegstage reicht: Tödliches Leid, das nie endet.
Ziemlich genau zehn Jahre ist es her, dass Carolyn Christov-Bakargiev die Documenta 13 in Kassel kuratierte. Und die Schau, die sie, kurz nach der Eröffnung der Biennale von Venedig und kurz vor der Documenta Fifteen, in der barocken Trutzburg im Piemont eröffnete, wo sie seit 2016 Italiens ältestes Kunstmuseum leitet (das auch die größte Sammlung von Arte Povera beherbergt), kann es mit diesen Formaten aufnehmen.
Von Höhlenmalerei bis zu NFTs: Es geht ums universalhistorische Große und Ganze
"Espressioni con frazioni", ihr Titel, zielt aufs universalhistorische Große und Ganze. Unter der Frage, wie sich menschliche Ausdrucksformen seit Beginn der Geschichte verändert haben, macht es die 63-jährige Kunsthistorikerin nicht. Bei Bakargiev ist gleichsam immer Biennale: Fünf Kontinente umfasst der gewaltige Parcours, Werke von 60 Künstlerinnen und Künstlern, von Fotos prähistorischer Höhlenmalerei bis zu NFTs.
Wer mit derart großem Kaliber den Fundus der Kunstgeschichte ins Visier nimmt, macht natürlich fette Beute. Kaum etwas, das nicht unter Bakargievs "Espressioni" fiele - selbst zwei Künstler, die sich so unterscheiden wie Feuer und Wasser. Der strenge Konzeptualist Sol Lewitt bricht das Raumgefühl in einem der Säle, indem er dessen Rechteckform als Wandmalerei in Blau, Gold und burgunderfarben leicht versetzt wiederholt. Nur mit viel gutem Willen lässt sich dagegen "Novecento", dem in einem Gurt von der Decke baumelnden Pferd des Ready-Made-Provokateurs Maurizio Cattelan, als Symbol eines gebrochenen Ausdrucks verkaufen. Das schlaffe Ross hängt von der original stuckierten Decke, als ob es der einstige Hausherr Viktor Amadeus, König von Savoyen und Sardinien, dort vergessen hätte, als ihn sein Sohn und Thronfolger 1731 verhaften ließ.
Immerhin schöpft Bakargiev nicht bloß aus dem Bestand: Für ihre Ausstellung mixt sie Werke der beeindruckenden Sammlung des 1984 vom damaligen Direktor Rudi Fuchs, noch einem Ex-Documenta-Chef, neu eröffneten Castello Rivoli mit neuen Arbeiten zeitgenössischer Künstler. Julie Mehretu belebt den Abstrakten Expressionismus eines Machos wie Jackson Pollock aus dem Geist des feministischen Widerstands. Das Bild "Orient" der amerikanisch-äthiopischen Malerin abstrahiert den Krieg in Syrien zu einem filigranen Liniengewirr.
Wie immer zielt Bakargiev auf die politischen "frazioni" der Gegenwart. Deswegen integrierte sie die erste Mini-Retrospektive des indigenen Künstlers Richard Bell in die Schau. Die wacklige Wellblechhütte, die er in den Castello-Garten gestellt hat, ist derjenigen seiner Familie nachempfunden, die die australischen Behörden 1967 mit einem Räumfahrzeug demolierten, als der Künstler 14 Jahre alt war.
Das große Thema, mit dem Bakargiev 2012 in Kassel die Kunstwelt entweder zur Weißglut oder zu Begeisterung trieb, war freilich eine Kunst, die ohne menschliches Zutun entsteht. Deswegen darf Pierre Huyghe in Rivoli sein Video über das vor sich hin rottende Biotop mit Rosa-Pfote-Hund in der Karlsaue zeigen und Agnieszka Kurant ihre Bilder, deren Pflanzenformen sich aus anorganischen Mineralien entwickeln.
Den Vogel des Posthumanen schießt diesmal aber der Meisterprogrammierer Beeple alias Michael Winkelmann ab. "Human One", seine kinetische Videoskulptur, in der ein Astronaut unaufhörlich durch eine sich ständig verändernde Landschaft wandert, leuchtet wie ein Fanal durch die 147 Meter lange Ausstellungshalle Manica Lunga in Rivoli.
Mit Blockchains Hilfe hat der neue Mega-Star der Kunstwelt das Werk so programmiert, dass kein Moment des Loops dem anderen gleicht. "Der erste Mensch im Metaverse", konstatiert Bakargiev euphorisch. Wer den Blick von Beeples dynamischem Posthumanoiden zu dem ihm listig gegenübergestellten Francis-Bacon-Werk "Study for Portrait IX" von 1956 wendet, bekommt womöglich eine Ahnung von Bakargievs Idee, mit "Espressioni frazioni" zu zeigen, was es heißt "human zu sein in einer posthumanen Welt".
Ihre Forderung nach einem "Wahlrecht für Erdbeeren und Hunde" ist heute Allgemeingut
Es ist natürlich lustig, dass eine Kunstwissenschaftlerin einen Digital-Propheten derart aufs Podest hebt, die die sozialen Medien meidet, die "Überdosis von digitaler, bildschirmbasierter Technologie" geißelt und gern entnervt auf ihre Handtasche schlägt, wenn das Handy klingelt. Aber in gewisser Hinsicht war sie ihrer Zeit immer voraus: Ihre Forderung nach einem "Wahlrecht für Erdbeeren und Hunde", die ihr den Ruf einer durchgeknallten Esoterikerin eintrug, ist heute intellektuelles Allgemeingut. Und inzwischen folgen viele Museen Bakargievs Vorbild.
Während der Pandemie funktionierte sie das Castello Rivoli zum Impfcenter um. Und nach dem Afghanistan-Debakel eiste sie afghanische Künstler und Kuratorinnen aus Kabul heraus nach Turin. "Ein Museum muss heute ein Ort sein, an dem die Kultur die Welt im Großen trifft, es ist ein Agent des Wandels" sagt Bakargiev in der ihr eigenen, fordernden Art.
Spätestens mit dem Rendezvous der Kollegen Beeple und Bacon dürfte diese eigensinnige Kunstliebhaberin nun auch ihrem jüngsten Wunsch einen Schritt näher gekommen zu sein, ein "Museum der nichtmenschlichen Kultur" zu kreieren. Was dann die ultima espressione wäre.
Espressioni Con Frazioni. Bis 25. September. Castello di Rivoli Museo d'Arte Contemporanea und Collezione Cerruti.