Georges Bizets "Carmen" ist als Oper beim Publikum beliebt wie sonst nur noch Mozarts "Zauberflöte", beide Stücke stellen ihre Interpreten jedoch vor riesige Probleme. Im Fall der "Carmen" zählt dazu das spanisch-folkloristische Ambiente, das bruchlos bis zur klischeehaft heftigen Erotik reicht, die sich, das nächste Spanienklischee, mit dem Tod verbrüdert. Gern wird die sexuell selbstbestimmte Titelheldin als Männerfantasie par excellence qualifiziert. Schon im Libretto wird Carmen nachgesagt, sie stelle ihre Freiheit über alles und gehe immer nur Sechsmonatsaffären ein. Dann sei der nächste dran. Umso interessanter also, wenn die "Carmen" einmal von einer Opernregisseurin inszeniert wird. Lydia Steier ist eine der wenigen und zudem sehr erfolgreichen Frauen in dieser noch immer fest in Männerhänden befindlichen Berufssparte. An der Oper Köln, die derzeit wegen Sanierungsarbeiten stadtfern im Staatenhaus der Messe und somit auf der Köln gegenüberliegenden Rheinseite spielt, ist jetzt Steiers weiblicher Blick auf die tödlich endende Causa Carmen zu erleben.
Wüsste er nicht, ob da ein Mann oder eine Frau inszeniert hat, würde der unbefangene Zuschauer wohl zuerst auf einen in die Jahre gekommenen Adepten des abgelebten Regietheaters tippen. Steier hat sich von Momme Hinrichs einen öden, zunehmend mit Blut verschmierten Schlachthof als Einheitsbühnenbild hinstellen lassen. Die Frauen sind erst Metzgerinnen, dann Tingeltangelprostituierte, Madonnen, Karnevalsprinzessinnen. Für Geld sind sie alle zu haben. Die Männer sind Soldaten, Kriminelle, Machos, Halsabschneider, Killer. Alle sind sie sexsüchtig und umstandslos hinter den Frauen her.
Es geht um die verschiedensten Formen des Begehrens. Und Carmen begehrt wie ein Mann
Um Liebe geht es schon bei Plotlieferant Prosper Mérimée nicht, genauso wenig in Bizets Oper. Stattdessen werden verschiedenste Formen des Begehrens vorgeführt. Das Begehren aber ist eine männliche Domäne: das Triumphatorbegehren des Stierkämpfers, das Machobegehren des Leutnants, das Sabberbegehren des Alten. Carmen aber, das wird in Steiers Version und dank ihrer grandiosen Protagonistin Adriana Bastidas-Gamboa ganz klar, widersetzt sich der Regel, dass nur die Männer die Frauen so schamlos offen begehren dürfen. Carmens Verhalten ist ein eklatanter Regelverstoß gegen den Geschlechtercode. Sie hebelt aber auch einen der zentralen Sozialcodes aus, indem sie ihre erotischen Gelüste über ihre beruflichen Pflichten stellt. Zudem reagiert sie so gar nicht auf die übliche Machoanmache, sie sucht sich Ausnahmemänner. Der Torero, ihr letzter Lover, macht sie als Kavalier an. Dessen Vorgänger, der keusch angepasst brave José, hat sie gar nicht erst angebaggert, den musste sie unter Aufbietung aller Tricks und Kräfte ins Bett zerren. Adriana Bastidas-Gamboa dunkelt ihre dunkle Stimme dabei noch zusätzlich ein, sie betreibt einen lasziven Striptease der Rhythmen, wird dominant in der Höhe, fordernd, ungeduldig, unwirsch. Und gewinnt den Widerstrebenden im letzten Moment. Es ist ein Sieg auf Zeit.
Diese Frau ist also ein Ärgernis. Nicht nur zu Mérimées und Bizets Zeiten, sie ist es auch heute. Aber muss sie deshalb sterben? Bezeichnend, dass keiner der Machos ihr den Tod bringt, sondern, so bei Mérimée und Bizet, der durch die Erotik aus der Bahn geworfene José, weil der sich als einziger nicht dem Spiel des Begehrens und Verlassens unterwirft, sondern gutbürgerlich liebt und deshalb ewige Dauer für das (möglichst) gegenseitige Gefühl will. Die Zweifel daran, dass dieser José tatsächlich Carmen aus enttäuschter Liebe ermorden kann, sind alt und wohlbegründet. Calixto Bieito hat in seiner klassischen, nach wie vor an den verschiedensten Häusern nachgespielten Inszenierung, den Mord als Unfall gezeigt: Der tölpelhafte José stolpert und ersticht Carmen aus Versehen. Lydia Steier geht einen Schritt weiter und veranlasst Carmen zum Selbstmord. Erst schlitzt sie sich den Mund auf, dann den Bauch. Warum?
Carmen wird von Albträumen geplagt - und von einer Liebestodessehnsucht
Dieser Freitod ist überraschend, nichts scheint darauf hinzudeuten. Doch es gibt zumindest Indizien, die den Suizid plausibel machen. Diese Carmen ist, genauso wie José, eine Außenseiterin. Sie rebelliert gegen die gängigen Regeln. Sie wird aber vom Establishment nicht ernst genommen und auch nicht als Gefahr begriffen. Sie ist keine Frauenrechtlerin, kämpft nicht einmal selbstbestimmt überlegt für bessere Lebensbedingungen. Sie ist einfach nur eine Unangepasste, ein verzogenes Kind, eine Sklavin ihrer eigenen Launen und Lüste. Und sie weiß darum. Sie empfindet sich als störendes Element, das zum Schweigen gebracht werden muss. Darauf deutet ihre immer wieder formulierte Todessehnsucht hin.
Carmen wird zudem, so lassen sich die zwischen den Akten in einer surrealen Stierkampfarena spielenden Traumsequenzen deuten, von Albträumen gequält, in der sie als Stier, als Opfer, fungiert. Das Vorbild ist Picassos "Minotauromaquía", die eine ohnmächtige, nackte, auf ein Pferd gefesselte Frau zeigt, die von einem Minotaurus, einem Stiermann, attackiert wird: die Feier des Liebestodes. Dieser blutige Albtraum ist in Köln ein Wunschtraum, den ihr niemand erfüllen will. Carmen darf bei Lydia Steier nicht das Opfer sein, das sie gerne wäre. Niemand wird sie zu Tode lieben. Selbst der Torero nicht, mit dem sie sich zuletzt eingelassen hat. Der hat schon zuvor die höfischen, so ganz und gar nicht tödlichen Regeln seines Begehrens formuliert. So ist der ungelenke José der einzige, der Carmens Liebestodessehnsucht erfüllen könnte. Doch selbst dazu ist der Mann zu ungelenk und versagt Carmen ihren dunkelsten Wunsch. Also muss sie zuletzt selber Hand an sich legen. Claude Schnitzler dirigiert dazu mit leichter Eleganz und einem Faible für Farben, er meidet alle hochdramatischen Entladungen und liefert damit die lockende äußere Hülle für Carmens blutig erotische Verzweiflung.