Süddeutsche Zeitung

Carmen Maria Machados Roman "Das Archiv der Träume":Verboten und undenkbar

Carmen Maria Machado sucht in ihrem Romandebüt "Das Archiv der Träume" eine Sprache für Gewalt in lesbischen Beziehungen.

Von Niklas Elsenbruch

Welche Sprache, welche Form lässt sich finden, um von häuslicher Gewalt zu erzählen - in einer lesbischen Beziehung? Die amerikanische Schriftstellerin Carmen Maria Machado beantwortet diese Frage in ihrem ersten Roman "Das Archiv der Träume" mit einer literarischen Collage: Essayistische Kapitel durchsetzen diejenigen der explizit autobiografischen Erzählung. Jedes nimmt dabei die Perspektive eines anderen Genres ein - von "Liebesroman" über "Noir" bis "Apokalypse". So will die Autorin ein "Kaleidoskop" erschaffen, das ihre Widerfahrnisse als repräsentativ zeigt für eine Vielfalt übersehener Lebensrealitäten, sich vom Anspruch auf Deutungshoheit jedoch distanziert.

Denn die Zentralperspektive des männlichen, heteronormativen Blicks, stellt Machado heraus, ist in Wahrheit nur eine unter vielen. Ihre Verabsolutierung durch weite Teile wenigstens westlicher Geschichte hat aber ein Problem hervorgerufen, das auch für das im Buch beschriebene Leid zumindest mitverantwortlich zeichnet: eine Sprachlosigkeit weiblicher Homosexualität.

So berichtet Machado, dass Anfang des 19. Jahrhunderts in England zwei Frauen vor Gericht standen, weil sie miteinander geschlafen haben sollen. Der Richter entschied sich gegen eine Verurteilung mit der Begründung, die Angeklagten seien in Ermangelung eines Penis der geschlechtlichen Penetration gar nicht fähig. Liebe zwischen Frauen war zugleich verboten und undenkbar.

Lesbische Beziehungen werden heute zu einer Utopie jenseits toxischer Männlichkeit verklärt

Solchermaßen verneinter Existenz möchte Machado eine Echokammer bauen. Dazu schreibt sie das Archiv - altgriechisch "das Haus des Herrschenden" - zu einem Aufbewahrungsort der Träume um: jener vermeintlich halbseidenen Phänomene, die in kollektiver Verdrängung ihr Schattendasein fristen.

Schuld an der Sprachlosigkeit trägt heute nur in Teilen noch die vorviktorianische Sexualmoral. Vielmehr ist die lesbische Liebesbeziehung zu einer Utopie jenseits aller Abgründe toxischer Männlichkeit verklärt. Als sich hinter der hinreißenden Fassade ihrer ersten Freundin eine dämonische Fratze zu regen beginnt, muss die junge Carmen nicht mehr nur das allseits schwerlich Akzeptable erklären: dass sie Frauen liebt. Sie müsste das Unvorstellbare benennen: dass ihre Freundin sie missbraucht, verbal, emotional, körperlich. Carmen verstummt.

Sie ist Mitte zwanzig, Studentin des renommiertesten Programms für kreatives Schreiben in den USA, des Iowa Writers' Workshop, und pendelt in ein gespenstisches Haus am Stadtrand von Bloomington, Indiana, zu der Person, die nur "die Frau im Traumhaus" heißt. Carmen verfällt in die chronische Rastlosigkeit eines Menschen, der seine Liebste fürchten muss, sich niemals sicher sein kann. Das Leben weicht aus ihr, die Wachheit. Körper und Geist beginnen sich zu trennen, anders ist der Schmerz unerträglich. Sie wird zu einem ephemeren Wesen, in die Ewigkeit eines Albtraums verbannt, aus dem sie sich nicht zu befreien vermag.

Das Buch überrollt seine Leser nicht, suhlt sich nicht im Elend. Dafür sorgen die Collagetechnik und die schlanke, legere Sprache, wenngleich mit einem Hang zum Bekenntnis. Carmen spricht ihr altes Ich als "Du" an: Alles passiert heute vor zehn Jahren, mitten in den USA, gewissermaßen am helllichten Tag. Sie führt ein Leben, das in seiner Eigenheit nicht anormal ist, liebt Literatur und Sex, macht einen Roadtrip nach Florida, erinnert sich an eine hingeträumte Kindheit und eine religiöse Jugend.

Die Risse an der Oberfläche sind zart und rar gesät, leicht zu übersehen, abzuwiegeln. Diabolischen Ausbrüchen ihrer Freundin folgen Akte biblischer Fürsorge. Die Sogwirkung steigt allmählich. Das Kapitel "Das Traumhaus als 1000 GEFAHREN. DU ENTSCHEIDEST SELBST®" bietet den Lesern die Wahl zwischen alternativen Handlungsverläufen. Wessen moralische Fantasie schon im Winterschlaf ist, der erfährt spätestens mit dem Scheitern einer jeden Reaktion die Ausweglosigkeit von Carmens Lage - aus der doch ein Weg hinausführen muss.

Im Pressegespräch sagt Machado, sie habe eine "Queerness der Form" gesucht, eine literarische Verkörperung derjenigen Seinsweise also, die sich binären Normen entwindet. Dies bedeutet eine Auffassung von Leben und Schreiben als tiefgründig Verbundenen - entgegen Rufen, die zu jedem Anlass irgendeine Literatur fordern und Werke wie "Das Archiv der Träume" am liebsten mit dem Label der Identitätspolitik abstempelten.

Manchmal zeugt die Collagetechnik zu sehr von Machados erklärtem Bestreben, die Gefahr "des Voyeurismus und der Sentimentalität" einer geradeheraus erzählten Leidensgeschichte zu umschiffen. In den Momenten jedoch, wo Erzählung und Essay einander brennglasartig beleuchten, wird deutlich: Machado stülpt ihrer Erfahrung und Situation keine Sprache über, sondern lässt eine Sprachform erst daraus erwachsen. Damit legt sie zumindest einen Stein im Fundament eines Archivs, das dringend weiterzubauen, zu füllen und zu sichten ist.

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