Süddeutsche Zeitung

Oper:Carmen ganz neu

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Der junge Dirigent Yoel Gamzou befreit an der Hamburgischen Staatsoper Bizets "Carmen" von allen klanglichen Klischees und legt die Extreme der Partitur frei.

Von Julia Spinola

Lautstark entladen sich bei dieser Premiere die aufgestauten Emotionen des Publikums. Dass eine Blödelregie wie die knallbunte neue "Carmen", die der Regisseur Herbert Fritsch der Hamburgischen Staatsoper zur Saisoneröffnung beschert, das Publikum auf die Palme bringt, gehört zum gewohnten Ritual. Zumal Fritschs Inszenierung in den drei Spanienklischees, die sie recht einfallslos vorführen möchte, stecken bleibt. Dass aber eine musikalische Interpretation die Zuhörer so aufwühlt, als hätte man ihnen statt des beliebten Dauerschlagers "Carmen" von Bizet eine hochdissonante Uraufführung zugemutet, ist ungewöhnlich. Schon vor der Pause geht auf den jungen, israelisch-amerikanischen Dirigenten Yoel Gamzou ein Sturm von Buh- und Bravorufen nieder. Seine zugespitzte, die Extreme ausreizende Deutung eines Werks, das jeder zu kennen glaubt, spaltet.

Tatsächlich hört man die "Carmen"-Musik an diesem Abend wie neu. Denn Yoel Gamzou gelingt auf mitreißende Weise, woran Fritsch scheitert: Er legt die schillernde Ausdrucksfülle dieses Werks frei, das von Todesmut und der Macht des Eros, vom brennenden Lebenswillen, vom unbedingten Freiheitsdrang und von der sexuellen Selbstbestimmtheit einer außergewöhnlichen Frau erzählt, befreit es von der klischeebeladenen Perspektive des voyeuristischen Flamenco-Touristen, findet zu einer existenziellen Intensität. Das fängt schon beim Orchesterklang an, dessen Farbenmischungen Gamzou facettenreich auffächert, statt die vielen verschiedenartigen Nuancen in einem fetten Streicherklang zu ertränken.

Alles süßlich Verkitschte weicht dem klaren Blick

Ebenso zugespitzt, voll überraschender Kontraste und Flexibilität sind auch die Tempi, die Gamzou jeweils genau den wechselnden Ausdruckslagen abgelauscht hat. Schon den Marsch des Vorspiels geht er zunächst mit einer Rasanz und Getriebenheit an, die den Zuhörer aus dem Sitz hebt, um dann durch plastische Tempo- und Farbwechsel eine geradezu räumliche Szenerie zu entfalten. Überhaupt hört man selten so wie hier, wie raffiniert Bizet seine Partitur zwischen den Genres und Stilen changieren lässt. Da steht eine fast operettenhafte Leichtigkeit neben lyrischen und hochdramatischen Ausdruckslagen, virtuosen Ensemblenummern und solistisch begleiteten Melodramen. Diese ganze sinnliche Charakterfülle entfaltet unter Gamzou jenseits aller Effekthascherei eine ungeahnte Lebendigkeit und szenische Suggestivität. Alles süßlich Verkitschte oder donnernd Aufstampfende weicht dem klaren Blick auf harmonische und dynamische Bögen.

Er misstraue dem Freiheitsbegriff, der mit der "Carmen" verknüpft sei, weil er in Wahrheit längst ausgehöhlt sei, hat Herbert Fritsch vor der Premiere verkündet. Welches Freiheits- und Emanzipationspotenzial jedoch nach wie vor in dieser Wunderpartitur steckt, war an diesem Abend zu erleben. Yoel Gamzou hat es entfesselt. Den Flamenco-Touristen hat er damit keinen Gefallen getan. Aber das müssen beide Seiten aushalten.

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