Cannes-Splitter:Unsere Musik ist die Revolution

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Mit Jean-Luc Godard und Hans Weingartner erlebt das Programm in Cannes einen ungeahnten Verjüngungsschock. Und das ist gut so.

TOBIAS KNIEBE

Plötzlich sind sie da, mitten im Festivalgewühl, in der Mittagshitze. Mädchen und Jungs, mit Lenin- und Che-T-Shirts und knallroten Fahnen, auf denen Révolution oder Jeunes Communistes steht. Sie blasen auf Trillerpfeifen und schauen sich herausfordernd um. Aber niemand schaut wirklich zurück, der Strom der Silikonbrüste, Leinenanzüge und Nonstop-Telefonierer gerät nicht einmal ins Stocken, er teilt sich, fließt um sie herum. ¸¸Solidarität", rufen sie, zur Unterstützung der Schauspieler, Filmtechniker und Bühnenarbeiter, die in Cannes für bessere Arbeitsverträge demonstrieren. Aber sie haben doch ihre eigenen Ziele, das sieht man sofort. Wichtig ist, falls der Funke des Widerstands endlich überspringt: Dabei gewesen zu sein.

Auch Jean-Luc Godard träumt von diesem Gefühl, noch immer. Das sieht man in seinem neuen Film ¸¸Notre Musique", der außer Konkurrenz gezeigt wird. Darin tut er ein paar Dinge, die er in den letzten Jahren schon oft getan hat. Aber man meint doch, eine neue Klarheit zu spüren - und den Versuch, den Mädchen und Jungs mit den roten Fahnen nicht nur von der eigenen Revolution zu erzählen, sondern ihnen auch wieder einmal zuzuhören. ¸¸Notre Musique" ist, erstens, ein Bildessay als Raubzug durch die Archive: Da sieht man Kriegsbilder, Vietnam-Dschungelbilder, Indianerfilmbilder, Talibanbilder, KZ-Leichenberge. Dazu Musikeinsätze von Sibelius, Tschaikowsky, Arvo Pärt. Das ist der erste Teil, er heißt ¸¸Die Hölle". Dann kommt der zweite, ¸¸Das Purgatorium". Er spielt im winterlichen, kriegszerstörten Sarajewo. Es tritt auf, vor allem: Godard.

Godard spricht vor jungen Studenten über Bilder und Texte. Inzwischen sind ohnehin alle Dialoge in seinen Filmen Lehrsätze, Godard-Aphorismen. Und niemand spricht Godard-Sätze so schön wie Godard. Das könnte fast in eine Dokumentation münden, mein Leben als raunende Pop-Ikone, aber es ist inszeniert. Unter den Studenten taucht eine Frau auf, Olga (Nade Dieu), eine Art junge Wahrheitssucherin aus Israel. Sie stellt besonders dringliche Fragen: Nach dem Krieg, dem Tod, nach Schuld und Versöhnung. Am Ende erfährt man, dass alle Antworten ihr nicht genügt haben. Zurück in Israel hat sie ein falsches Selbstmordattentat inszeniert und ist von echten Polizisten erschossen worden. Godard erfährt diese Nachricht am Telefon, bei der Gartenarbeit. Er hält inne und schickt das Mädchen dann in ein Paradies seiner Imagination - ein humorvolles, eher beiläufiges Paradies am Ufer eines Sees. Das ist der dritte Teil. So hat er, unversehens, einen Anfang, eine Mitte und ein Ende gewonnen, eine Dringlichkeit der Analyse, eine jugendliche Unbeschwertheit im Denken - und ganz nebenbei den schönsten und zugänglichsten Godard seit langem geschaffen.

Die Jungs und die Mädchen mit der großen Wut auf die Welt - dass Hans Weingartner sie ernst nehmen würde, war zu erwarten. ¸¸Die fetten Jahre sind vorbei" ist der erste deutsche Wettbewerbsbeitrag seit elf Jahren, aber in den letzten Tagen ist er noch etwas mehr geworden: Ein Film über die Jugend in einem eher gesetzten Wettbewerb, ein Film über die Revolution, ein Film von einem Österreicher in Berlin, von dem das internationale Kino noch gar nichts weiß. All das hat zu einem Hype geführt, bei dem einem angst und bange werden konnte. Aber dann beginnt ein Film, der erst mal sehr reale junge Berliner zeigt. Jan hat hohe moralische Ansprüche und meint, schon alles über die ¸¸kapitalistische Diktatur des Systems" zu wissen - eine Naivität, die Daniel Brühl erstaunlich glaubhaft macht. Peter (Stipe Erceg) ist lässiger und lebensfreudiger, aber dennoch sein Freund und Partner. Gemeinsam sind sie ¸¸Die Erziehungsberechtigten": Nächtliche Einbrecher, die in den Villen der Reichen die Möbel verrücken, ohne etwas zu stehlen. Für Diebstähle, sagt Jan, gibt es schließlich Versicherungen - damit schocken wir keinen. Die Botschaften, die sie vor Ort zurücklassen, sollen stattdessen Zweifel und Einsicht säen: ¸¸Die fetten Jahre sind vorbei."

Zu dem Duo stößt Jule (Julia Jentsch), die Freundin von Peter, die sich unter der Hand in Jan verliebt. Sie hat das realste Problem von allen: Einen reichen Mann namens Hardenberg, bei dem sie für die nächsten sieben Jahre Schulden abzahlen muss. Der Einbruch bei ihm geht schief, er muss als Geisel genommen werden - aber auf der Berghütte, wo die drei ihn vor der Welt verstecken, entwickeln sich die Dinge sehr anders als geplant. Antikapitalistische Sprüche klingen plötzlich hohl, Eifersucht droht die Gruppe zu sprengen - und Hardenberg (genial verkörpert von Burghart Klaußner) enthüllt ungeahnte Seiten seiner Persönlichkeit. Revolutionär ist der Film da schon längst nicht mehr - aber er folgt der zwangsläufigen Ernüchterung mit Humor und Ehrlichkeit. Am Ende mündet das Drama der Weltverbesserer beinah in einem Feelgood-Film, aber Hans Weingartner schafft das Kunststück, die Zuschauer zugleich deprimiert und hoffnungsvoll zu entlassen - und das, ohne eine einzige Idee zu verraten.

Die Mädchen und Jungs von der Croisette mit den Fahnen - die haben wir dann auch nochmal wiedergesehen. Sie rannten durch eine Seitenstraße nahe dem ¸¸Palais du Cinéma". Hatten sie Rabatz gemacht, war gar der Funke des Widerstands übergesprungen? Man wartete auf die Schlagstockbrigaden, die Speerspitze der Repression - aber es kam keiner. Nur unten auf der Croisette zog der Strom der Silikonbrüste, Leinenanzüge und Non-Stop-Telefonierer vorbei, als wäre nie was gewesen.

© Quelle: Süddeutsche Zeitung Nr.114, Dienstag, den 18. Mai 2004 , Seite 15 Fenster schließen - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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