Süddeutsche Zeitung

Cannes-Sieger "Dheepan" im Kino:Mit dem "Hochdruckreiniger" in die Banlieues

Das Flüchtlingsdrama "Dheepan" realisiert eine brutale Fantasie der französischen Rechten.

Filmkritik von Philipp Stadelmaier

Plötzlich, wie aus dem Nichts, fallen Schüsse. Die Frau und das kleine Mädchen lassen ihre Einkaufstaschen fallen, rennen los, verstecken sich hinter einer Häuserecke, während ihnen die Kugeln um die Ohren pfeifen. Willkommen im Frankreich von 2015.

Die Frau und das Mädchen stammen aus Sri Lanka. Sie kennen die Gewalt aus dem Bürgerkrieg, vor dem sie geflüchtet sind, auf der Suche nach einem besseren Leben in Europa. Geflohen vor dem Terror finden sie sich trotzdem mitten im Terror wieder, denn in der Pariser Banlieue, in der man sie untergebracht hat, herrschen arabisch-maghrebinische Drogenbanden, die sich gegenseitig abknallen.

Als Jacques Audiards Drama "Dämonen und Wunder - Dheepan" im Mai bei den Filmfestspielen von Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnet wurde, waren bereits massenhaft Menschen auf der Flucht nach Europa. Die Anschläge auf Charlie Hebdo waren knapp ein halbes Jahr her und der Terror vom 13. November noch ein halbes Jahr entfernt.

Ein Film über Flüchtlinge, vermischt mit Terror im urbanen Raum? Darüber wurde in Frankreich kontrovers diskutiert. Nicht zuletzt, weil in "Dämonen und Wunder" das einzige Heilsversprechen in körperlicher Härte besteht. Das ist ein Dauerthema von Regisseur Audiard, der zuvor die knallharten Dramen "Ein Prophet" und "Der Geschmack von Rost und Knochen" gemacht hat.

Apolitisch als politisches Statement

Diesmal erzählt er von einer Frau, einem Mädchen und dem Mann Dheepan, einem ehemaligen tamilischen Kämpfer, die alle drei aus Sri Lanka nach Frankreich kommen. Sie geben sich als Familie aus, um ihre Chancen auf Asyl zu erhöhen und landen schließlich in einer heruntergekommenen Pariser Cité, wo vor allem kriminelle Araber wohnen. Dheepan arbeitet als Hausmeister, die Frau Yalini als Köchin, das Mädchen Illayaal geht zur Schule. Für einen Moment scheint es, als würde die Sache gut gehen. Bis sich irgendwann Dheepan mit den maghrebinischen Jungs anlegt - und die Gewalt eskaliert.

Audiard erzählt diese Geschichte in schnellen Zeitsprüngen. Die drei kommen nach Paris, wo Dheepan auf einem Boulevard als Straßenverkäufer herumstreunt. Nach fünf Minuten haben sie ihr Visum und sind auf dem Weg in die Banlieue. Diese extremen Sprünge markieren die Etappen einer linearen und ausweglosen Narration, die mit einem letzten Sprung in einer lächerlich anmutenden Utopie endet.

Nur erinnert diese Art, mit Figuren umzugehen, auch ein bisschen daran, wie man eine Akte durchblättert, in der man immer wieder ein paar Seiten überspringt. Weil man sie ja schon kennt, "Fälle wie diese", die sowieso schiefgehen. Audiard hat seinen Film in Cannes als "apolitisch" bezeichnet. Was natürlich auch ein politisches Statement ist. Er hat sich einfach nur den Standpunkt ausgesucht, der politisch der neutralste zu sein scheint: den Standpunkt des Amtes oder der staatlichen Institution.

Der Film behandelt seine Figuren wie Bittsteller auf dem Amt, nüchtern und desillusioniert, und ein kleines bisschen menschlich: Ihrer Verzweiflung begegnet er mit einem mitleidigen Blick und Schulterzucken. Als würde er tun, was getan werden muss, ohne sich darüber hinaus engagieren zu können. Einwanderungsbehörde und Schule werden denn auch besonders fürsorglich dargestellt.

Zynischer geht's kaum

Nun gab es in letzter Zeit diverse französische Filme wie diesen, die sich um Ämter drehen. Die Desillusioniertheit, die politische "Neutralität" und den Mangel an progressiver Haltung haben sie mit "Dämonen und Wunder" alle gemein. Nicht nur Flüchtlinge sind betroffen, in Filmen wie "Liebe auf den ersten Schlag", "Der Wert des Menschen" oder "La tête haute" geht es auch um Franzosen, um Arbeitslose, Jugendliche, schwer erziehbare Subjekte.

Was machen diese staatshörigen Geschichten mit ihren Protagonisten? In "Liebe auf den ersten Schlag" von Thomas Cailley zum Beispiel beteiligen sich ein Mannweib und ein Milchbubi an einem Sommercamp der Armee. Was sich erst nach Emanzipation und ein wenig Experimentieren mit Geschlechtsrollen anfühlt, bleibt völlig unambitioniert und proklamiert letztlich, qua Militär, die Sehnsucht nach Leben in völligem Konsens. Dass ausgerechnet das Heer einem Liebespaar eine romantische Perspektive auf einen radikalen Neuanfang bieten soll - zynischer geht's kaum.

Oder "La tête haute", der wie "Dämonen und Wunder" in diesem Jahr in Cannes lief: ganz unironische Staatspropaganda. Catherine Deneuve spielt eine Jugendrichterin, die mit Engagement und Autorität ein Problemkind aus schwierigen Verhältnissen wieder auf Vordermann bringt. Ganz Frankreich wird in Bewegung versetzt, um dem undankbaren Balg zu helfen, das am Ende "gezähmt" aus dem Justizpalast spaziert, vor dem stolz die Trikolore im Wind flackert.

Durch solche Geschichten wird das französische Kino aber gerade selbst zu einem Amt, das nur noch lustlos die hoffnungslosen Fälle verwaltet und die Außenseiter und Loser der Gesellschaft mit Werten wie Staatshörigkeit, Kleinfamilie und Lohnarbeit belehrt. Ins Kino zu gehen heißt in den genannten Fällen: aufs Amt zu gehen. Und jeder weiß, wie sich das anfühlt.

Es redet sich schlecht mit Ämtern, wobei sie gerade aus ihrer Unverständlichkeit ihre Autorität ziehen. Man nehme den Deneuve-Film "La tête haute". Die Botschaft, die er hat, hätte man in fünf Minuten erzählen können. Trotzdem dauert er zwei Stunden und hält einem am Ende noch die Trikolore unter die Nase - um sicherzugehen, dass die Botschaft wirklich auch in der letzten Reihe des Kinosaals verstanden wird. Kinofiktionen aber, die derartig aufs Amt und den Staat fixiert sind, stecken ebenso in der Krise wie die Politik, die sie abbilden.

Es fehlt der Fiktion schlichtweg an der Fiktion

Als hätten Politik und Kino beide die Fähigkeit verloren, sich etwas anders als den Status quo zwischen desillusionierter Realpolitik und mitleidigem Humanitarismus vorzustellen, die wahlweise in absurd-ironischen, pathetisch-patriotischen oder - wie in "Dämonen und Wunder " - in gewalttätig-düsteren Farben gemalt werden. Es fehlt der Fiktion (in Frankreich, aber nicht nur dort) schlichtweg an der Fiktion. Wenn das Kino in unseren Zeiten noch eine Aufgabe haben soll, dann muss es doch die Ämter verlassen und eine Utopie jenseits davon entwerfen können, sprich: eine veritable Zukunft.

Wenn Audiard wirklich eine Fiktion hätte erzählen wollen, wie er immer wieder behauptet hat, warum muss sich Dheepan dann alle paar Minuten an seine gewaltvolle Vergangenheit erinnern? Eine Figur, die nur darauf festgelegt wird, woher sie kommt, hat keine Zukunft, kann nichts anderes werden und nirgendwo hinfliehen als in Gewalt und Verderben. Die einzige wirkliche Fiktion in "Dämonen und Wunder", seine politisch gewagteste Seite, wäre denn traurigerweise die illegale Gewalt, mit der Dheepan, der alte Kämpfer, am Ende das Gesetz in die eigene Hand nimmt. Er räumt im Ghetto richtig auf. Ein einziges Mal darf er sich so über die staatliche Ordnung und Bürokratie stellen - aber nur, um sie gewalttätig aufrechtzuerhalten und abzusichern.

Der Film realisiert damit die brutale Fantasie der Rechten (vor einigen Jahren geäußert von Nicolas Sarkozy), mit dem "Hochdruckreiniger" die Banlieues von dem ganzen "Gesindel" zu befreien. Man nennt diese perversen Träumereien in diesen Tagen bürokratisch auch Ausnahmezustand, der seit dem 13. November in Frankreich verhängt wurde und seitdem nicht mehr nur im Kino gilt.

Dheepan, Frankreich 2015 - Regie: Jacques Audiard, Buch: Audiard, Thomas Bidegain, Noé Debré. Kamera: Éponine Momenceau. Mit: Jesuthasan Antonythasan, Kalieaswari Srinivasan, Claudine Vinasithamby, Vincent Rottiers. Weltkino-Filmverleih, 109 Minuten.

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Quelle:
SZ vom 10.12.2015/jobr
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