Süddeutsche Zeitung

Cannes:Meine liebste Zündholzschachtel

Die Stars des Autorenfilms marschieren auf: Pedro Almodóvar erforscht mal wieder die Frauen, Olivier Assayas beschwört Geister und Jim Jarmusch ist auf den Hund gekommen.

Von Tobias Kniebe, Cannes

Ein Zettel oder ein Blatt Papier, darauf gekritzelt die Bitte um Kinokarten, mit beiden Händen vor die Brust oder über den Kopf gehalten. Dieser Anblick ist allgegenwärtig rund ums Festival, er gehört zu Cannes wie das Glitzern der Bucht. Mittendrin aber, vor Beginn der Morgenvorstellung, steht da ein junger Mann im Smoking, an dem der Blick sofort hängen bleibt: Mit ernster Miene hält er beide Hände hoch, genau wie die anderen Kartensucher um ihn herum, und sein Anliegen ist real, er macht sich nicht lustig. Nur ist sein Zettel imaginär - zwischen seinen Händen ist nichts als Leere.

Sind es nicht exakt solche Bilder, nach denen auch das Kino immer sucht? Ein Moment der Verstörung und Irritation, der eine Alltagsgeste zitiert und unterwandert, und sie in Poesie verwandelt. Eine Unterbrechung im Bilderfluss, die zum Hinschauen einlädt, lockt, vielleicht sogar zwingt. Man denkt an Michelangelo Antonioni und den imaginären Ball am Ende seines legendären Films "Blow Up", und schon ist der Blick wieder geschärft für all die Irritationen, die so ein Festival erst wirklich spannend machen.

Oder, wenn sie ausbleiben, eben nicht. Wie in "Paterson" von Jim Jarmusch, der nicht die leiseste Überraschung bietet. Die meisten Kritiker hat das nicht gestört, in den Zustimmungsraten liegt er gleich hinter "Toni Erdmann" von Maren Ade. Warum nicht, denkt man zunächst. Adam Driver spielt einen Busfahrer in der Stadt Paterson, New Jersey, er heißt zufällig auch Paterson, und die meditative Immergleichheit seines Tagesablaufs - der immer gleiche Fußmarsch zum Busdepot, das immer gleiche Sandwich - soll wohl die Wonnen der Alltäglichkeit feiern.

Paterson schreibt Gedichte, die zum Beispiel von Streichholzschachteln handeln, nur so für sich in ein kleines Notizbuch. Er redet wenig. Er hat eine Englische Bulldogge, die immer lustig aussieht, wenn man einen Zwischenschnitt auf sie macht; und er nennt eine wunderschöne Ehefrau sein eigen, gespielt von der Iranerin Golshifteh Farahani. Die ist immer freundlich und aufmunternd, unterstützt ihn von ganzem Herzen und ist in ihren kreativen Ambitionen - dekorieren, Gitarre spielen, Cupcakes backen - so herrlich ungefährlich für die männliche Schnarchnase, dass man sie knuddeln möchte.

Was stimmt nun wieder nicht mit diesem Kritiker, dass er das alles hassen muss? Warum kann er das nicht einfach eine "sublime Ode an die Gewöhnlichkeit" nennen, wie die anderen, oder eine lebensnotwendige Atempause vom Superheldenkino? Weil es zwar nett ist, aber tot. Patersons Gedichte über Streichholzschachteln klingen im Vergleich zu dem, was in den jungen Poetry Slams dieser Welt gerade los ist, tot. Das Frauenbild dieses Films ist tot, das Männerbild auch, und diese drolligen Hundezwischenschnitte würde auch ein toter Sitcom-Regisseur aus den Fünfzigern so drehen - aber der würde sich wenigstens ein bisschen dafür schämen.

Die dringliche Suche gilt im Wettbewerb jetzt also Zeichen von Lebendigkeit, von Irritation, von Störungen im Bilderfluss, die geeignet sind, alle wieder aufzuwecken. Bei Olivier Assayas und seinem Film "Personal Shopper" zum Beispiel, der spannend ist, aber am Ende doch unbefriedigend rätselhaft. Man muss dabei aber sofort an den Kartensucher mit seinem imaginären Zettel denken - Assayas zeigt nämlich, ganz ohne Ironie, auch mal Geister. Sie können Aufzug fahren oder durch Automatik-Glastüren spazieren, und manchmal sieht man sie sogar, aber meistens sind sie Luft. Sehr real dagegen ist Kristen Stewart, die durch Paris und London fährt und exklusive Kleider für eine sehr reiche Kundin auswählt. Das ist aber nur ihr Job, eigentlich sucht sie spirituellen Kontakt zu ihrem verstorbenen Zwillingsbruder, und weil sie ein Medium ist, beschwört sie dabei noch alle möglichen anderen Wesen aus dem Jenseits. Starker Moment der Irritation, weil Brückenschlag zum Horrortrash: Wenn die Präsenz einer wütenden Verstorbenen sich bildlich in einem dunklen Zimmer manifestiert - man denke an ein Wesen aus grünwirbelndem Zigarettenrauch, das sehr böse aussieht.

Nicht irritierend, dafür aber meisterlich involvierend zeigen sich die Dardenne-Brüder und Pedro Almodóvar. Der Ausgangspunkt ihrer Geschichten ist ähnlich - wie aus einem Zufall Schuld wird, oder wenigstens ein Schuldgefühl, und wie diese Last Leben und Schicksale zerstören kann. In "La fille inconnue" von den Dardennes spielt Adele Haenel eine junge Ärztin, die eines Abends, lange nach Praxisschluss, auf das Klingeln einer jungen Frau nicht öffnet - und dann nicht darüber hinwegkommt, dass diese am nächsten Tag tot am nahen Flussufer aufgefunden wird. Sie beginnt nachzuforschen, um ihr Gewissen zu beruhigen, und weckt dabei auch bei anderen Beteiligten das Bedürfnis, sich von schweren Steinen auf dem Herzen zu befreien.

In "Julieta" von Pedro Almodóvar, nach dem Buch "Runaway" von Alice Munro, ist es eine zufällige Begegnung im Zug, die alles Weitere bestimmt. Julieta (Adriana Ugarte, im späteren Leben Emma Suárez) flüchtet vor einem höflichen älteren Mann, der sich in ihr Abteil setzt, und von dem sie sich lüstern angesehen fühlt. Der nutzt dann gleich den nächsten Aufenthalt, um sich vor den Zug zu werfen. Da leidet man mit, muss aber doch kurz an die Sommerwirklichkeit draußen auf der Croisette denken: Wenn alle älteren Männer, die hier in unerwiderter Lüsternheit auf junge Frauen schauen, anschließend aufs Gleis gehen würden, brächte der daraus resultierende weibliche Schuldkomplex eine neue Eiszeit über den Globus.

Doch egal, darum geht ja nicht. Bei Almodóvar macht Julieta jedenfalls den Fehler, diese und andere Schuldgefühle viel zu tief in sich selbst zu vergraben. Sie will, dass ihre Tochter frei davon aufwächst, und übersieht, dass diese Abschottung Wechselwirkungen hat. Als sie erkennen muss, wie fremd ihr das eigene Kind geworden ist, hat sie es schon verloren. Almodóvar erzählt das mit sicherer, unbeirrbarer Hand, genau wie die Dardennes auch - und wenn es hier einen Wermutstropfen gibt, dann allenfalls das Gefühl, dass diese Filmemacher solche Geschichten nicht nur ganz ähnlich schon erzählt haben, sondern in der Vergangenheit vielleicht sogar noch besser.

Der nächste geschickt programmierte Doppelschlag kommt dann von Brillante Mendoza aus Manila und von Kleber Mendonça Filho aus Recife, Brasilien. In beiden Geschichten geht es um den Kampf von Individuen gegen das System, was auf den Philippinen wie in Brasilien ein System der Schurken und der Korruption ist. In Medozas "Ma' Rosa" muss eine Familie aus dem Armenviertel, die nebenbei mit kleinen Mengen Drogen gehandelt hat, sich mit viel Geld von der Polizei freikaufen. Geld, das niemand, den sie fragen könnten, wirklich hat. Wie die drei Kinder dann für die Befreiung der Eltern durch das Chaos Manilas hetzen - das hat Wucht.

Welten entfernt scheint Brasiliens Oberschicht zu sein, die Filho in "Aquarius" zeigt. Die in leuchtender Schönheit gealterte Sônia Braga spielt darin die Witwe Doña Clara, die ihr Apartment an der Uferpromenade nicht verkaufen will, obwohl eine Baufirma alle anderen Wohnungen bereits aufgekauft hat und den Abriss plant. Während die Methoden, sie zur Aufgabe zu bewegen, immer härter werden, beschwört Filho noch einmal die verflossene Glorie der brasilianischen Intelligenzia, getrieben von Stilgefühl, Hoffnungen und großer Musik. Und er glaubt, wie Mendoza, dass Widerstand am Ende möglich ist.

Selbstgerechte Triumphe des Guten aber sind beide Filme nicht - was wiederum an starken Momenten der Irritation liegt. Bei Brillante Mendoza setzt ein Sohn der Familie seinen Körper für schwulen Sex ein, und er hat erkennbar kein Problem damit - was dann gleich mehr Geld einbringt als alle anderen Rettungsaktionen zusammen. Doña Clara in Recife wiederum muss einsehen, dass ihre Brustkrebsnarben sie zum Alleinsein verdammen, und irgendwann ruft sie den Callboy an, von dem ihre Freundin schwärmt. Wie sie damit die Vorteile ihres Geldes nutzt und damit ihrem eigenen perfekten Selbstbild auch mal den Stinkefinger zeigt, fühlt sich vielleicht nicht richtig an, aber echt. Und es macht sie zu einer der lebendigsten Figuren dieses Festivals.

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Quelle:
SZ vom 19.05.2016
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