Festival von Cannes 2021:Schuld der Väter, Sehnsucht der Töchter

Festival von Cannes 2021: Virginie Efira als Benedetta Carlini in Paul Verhoevens "Benedetta".

Virginie Efira als Benedetta Carlini in Paul Verhoevens "Benedetta".

(Foto: Festival International du Film Cannes)

Paul Verhoevens "Benedetta" ist ein Skandal mit Ansage. Filme von Sean Penn und Nanni Moretti erzählen von Familienbeziehungen, dem zentralen Festivalthema.

Von Tobias Kniebe

Das Festival von Cannes liebt und verteidigt seine Traditionen, daran ändert keine Pandemie etwas, da kann auch der Rest der Welt den Kopf schütteln, so lange er will. Eine dieser Traditionen ist der sogenannte Skandalfilm, den es in fast jeder Wettbewerbsauswahl gibt, und der aus der Sicht der Festivalmacher natürlich kein Skandal ist, sondern der aktuelle Lackmustest für die Freiheit des Kinos, Scham- und Geschmacksgrenzen zu ignorieren, Moralwächter in Aufruhr zu versetzen und für nächtelange Diskussionen mit viel Rosé zu sorgen. Selten aber kam so ein Skandal derart mit Ansage daher wie in diesem Jahr Paul Verhoevens "Benedetta".

Das beginnt schon damit, dass der inzwischen 82-jährige Regisseur aus den Niederlanden einen Ruf als sexbesessener Provokateur zu verteidigen hat, der in Europa mit "Türkische Früchte" begann, in Hollywood mit Filmexzessen wie "Basic Instinct" und "Showgirls" kulminierte und jetzt in Frankreich immer noch Geldquellen sprudeln lässt. Sein letzter Cannes-Beitrag im Wettbewerb war "Elle", in dem Isabelle Huppert als Vergewaltigungsopfer beginnt, den psychopathischen Täter für ihre eigene Lust zu benutzen. Der Witz dabei ist, dass man solche Filme zwar als feministisches Statement lesen kann, jedem altgedienten Sex-and-Crime-Produzenten aber natürlich trotzdem die Dollarzeichen in den Augen kreisen.

Sein Film könne nicht blasphemisch sein, sagt Verhoeven, die Wahrheit sei einfach nur die Wahrheit

Da will man dann natürlich nachlegen, und was wäre dafür besser geeignet als blutspritzende religiöse Visionen, junge Nonnen, deren Körper entblößt werden, explizite Sexszenen hinter Klostermauern und verbrecherische Intrigen in der katholischen Kirche? All das ist "Benedetta", außerdem aber auch die Verfilmung eines aufwendig recherchierten historischen Sachbuchs: Judith C. Browns "Immodest Acts: The Life of a Lesbian Nun in Renaissance Italy", das anhand von Prozessakten aus dem 17. Jahrhundert ungewöhnliche Einblicke in den damaligen Umgang mit Homosexualität gibt. Sein Film könne deshalb auch gar nicht blasphemisch sein, sagt Verhoeven, schließlich sei die Wahrheit einfach nur die Wahrheit.

Gläubige Christen werden das sicher anders sehen, etwa wenn eine hölzerne Madonnenstatue so umgeschnitzt wird, dass sie als Dildo im Liebesspiel der beiden Nonnen Benedetta (Virginie Efira) und Bartolomea (Daphné Patakia) zum Einsatz kommt. Hollywood zittert vor den neuen "Intimacy Coordinators", scheint Verhoeven zu sagen, ich als kinogeschichtlich registrierter Lustgreis aber erlaube es mir, auf all die neuen Regeln zu scheißen. Und so reißerisch inszeniert er dann auch. Nur: Warum haben die durchweg tollen Schauspielerinnen und Schauspieler da mitgemacht, und warum stehen sie auch auf dem Roten Teppich voll zu ihrem Werk? Weil "Benedetta" auf böse und oft sehr lustige Weise auch von der Gier der Kirche handelt, dem Hang der Menschen zu Täuschung und Selbsttäuschung bis hin zur Wundergläubigkeit, dem schmalen Grat zwischen Erleuchtung und Wahn. Da wird man, an etwas weniger heißen Tagen, noch mal genauer hinschauen müssen.

Am Ende kann man nur auf die Vergebung großherziger Kinder hoffen

Nach diesem Aufreger geht es im Wettbewerb dann wieder ruhiger weiter, und es sind nun endgültig Familienbeziehungen, die sich als zentrales Thema des diesjährigen Festivals herauskristallisieren. Als Eltern kann man unendlich viel falsch machen, zu dieser Erkenntnis kommen so unterschiedliche Filmemacher wie der amerikanische Schauspieler und Außenseiter-Filmemacher Sean Penn und der italienische Meisterregisseur Nanni Moretti - und am Ende kann man nur auf die Großherzigkeit der Kinder hoffen, die einem eines Tages vergeben müssen. In Penns Drama "Flag Day" hat das noch einmal eine besondere Note, weil er hier als Regisseur seiner eigenen Tochter Dylan Penn, 30, ihren ersten großen Kinoauftritt verschafft. Und da kann man jetzt von Elternstolz und Vetternwirtschaft reden, so viel man will, aber diese Schauspielerin, die ihrer Mutter Robin Wright wie aus dem Gesicht geschnitten ist, war wirklich bereit für ihren großen Auftritt in Cannes.

Festival von Cannes 2021: Bereit für den großen Auftritt: Dylan Penn, 30, in ihrer ersten großen Kinorolle, in "Flag Day". Vater Sean Penn hat Regie geführt.

Bereit für den großen Auftritt: Dylan Penn, 30, in ihrer ersten großen Kinorolle, in "Flag Day". Vater Sean Penn hat Regie geführt.

(Foto: Festival International du Film Cannes)

In ihrem Buch "Flim-Flam Man: The True Story Of My Father's Counterfeit Life" hat die Journalistin Jennifer Vogel das Leben ihres Vaters erzählt, der auf der Jagd nach dem amerikanischen Traum zu einem unverbesserlichen Lügner wurde, der allen Menschen um sich herum das Herz brach. Ihre Geschichte ist die Grundlage von "Flag Day", Sean Penn spielt diesen ewig von Schulden, falschen Hoffnungen und gescheiterten Geschäftsideen gejagten Mann selbst, und die Szenen, in denen sein Blick um die Liebe und Anerkennung seiner Tochter geradezu bettelt, wirken lange nach. Dylan Penn ist ebenso überzeugend, wenn sie die Sehnsucht spielt, dass der Vater einfach nur mal da sei möge und die Wahrheit sagt. Dabei ahnt man natürlich, dass die beiden über den Umweg fremder Leben auch ganz eigene Themen verhandeln - die Trennungen und Wiederversöhnungen im Hause Penn/Wright sind Legende in Hollywood, selten ging eine Ehe wilder hin und her, da wird es Dinge zu verzeihen geben. Der Tochter aber das Geschenk einer solchen Rolle zu machen - das ist dann wahrhaft praktische Wiedergutmachung.

Wie wurde der Sohn, was er ist? Nanni Moretti deutet es in seiner Darstellung des Vaters an

Auch Nanni Moretti spielt den Vater, der das Leben seines Sohnes und im Grunde auch das seiner Frau ruiniert hat, in seinem Film "Tre Piani / Drei Stockwerke" dann mal lieber gleich selbst. Wir lernen ihn als ergrauten Richter kennen, der wenige Worte macht, sich in jeder seiner Äußerungen aber als gewissenhafter und zutiefst integrer Mann offenbart. Sein Sohn dagegen scheint schon unrettbar verloren zu sein, als der Film beginnt, er fährt im Alkoholrausch eine Frau tot, zeigt keinerlei Reue, bricht seinen Hausarrest und versucht, sich aus einer langen Gefängnisstrafe herauszuwinden. Parallel werden noch andere Geschichten erzählt, nach dem Roman "Über Uns" des israelischen Autors Eshkol Nevo, die alle in demselben großbürgerlichen Haus in einem ruhigen Viertel Roms spielen.

Sie alle handeln von männlichen Irrungen und von familiären Brüchen, die irgendwann nicht mehr zu heilen sind, und sie sind nicht alle gleich überzeugend. Wie der Sohn aber wurde, was er ist, das wird erst nach dem Tod des Vaters langsam klar, wenn sich seine Frau nach und nach aus der puritanischen Hölle der Gerechtigkeit befreit, die ihr Mann mit ihrer Hilfe erbaut hat. Die Frauen müssen die Hoffnung weitertragen - aber es ist dann doch Morettis Figur in ihrer extremen Ökonomie, die praktisch nur aus Andeutung und Reduktion besteht, die länger im Gedächtnis bleiben wird als alle sommernächtlichen "Skandalfilm"-Debatten.

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Filmstills aus "Basic Instinct" (DVD- und Blu-ray-Start am 17.6.21); © Studiocanal (auch online)

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