Süddeutsche Zeitung

Cannes:Auf den Stufen zum Kinohimmel

Der zweifache Cannes-Gewinner Michael Haneke zeigt im Wettbewerb seine Filmgroteske "Happy End", hat in diesem Jahr aber aufregende Konkurrenz.

Von Tobias Kniebe

Vor jeder Vorführung wird bei den Filmfestpielen von Cannes ein computeranimierter Trailer gezeigt, der zur Musik von Saint-Saëns' "Karneval der Tiere" eine Kamerafahrt simuliert. Sie beginnt unter Wasser im Meer, wo ein paar im Nichts schwebende Treppenstufen mit rotem Teppich auftauchen. An dieser Freitreppe entlang fährt die Kamera dann nach oben, aus dem Wasser heraus und in den azurblauen Himmel hinein, bevor sich am höchsten Punkt ein Ausblick ins nachtschwarze Weltall eröffnet und ein goldenes Palmenblatt krönend das Bild überspannt. Dieses Intro ist seit Jahren unverändert.

Diesmal allerdings, zum siebzigsten Jubiläum, stehen auf jeder Treppenstufe lauter Namen großer Filmemacher. Sie gleiten zu schnell vorbei, als dass man sich alle merken könnte, was sich aber sofort aufdrängt, ist das Gefühl einer Hierarchie. Warum steht Orson Welles ganz oben, Ingmar Bergman eine Stufe darunter, und so fort? Gab es da ein System? Eine Jury? Länderquoten, Frauenquoten, eine Obergrenze für Amerikaner? Spätestens nach dem dritten Glas Wein verlangt hier jede Kritikerrunde Antworten.

Die gibt es zunächst nicht, aber dafür finden sich unter den Regisseuren im Wettbewerb von Cannes langsam solche, denen man einen Platz ganz oben auf der diesjährigen Treppe gönnt. Der überraschendste Name ist dort sicherlich der Franzose Robin Campillo. Der Mann ist Mitte fünfzig, war lange Cutter und Drehbuchautor, aber erst sein Film "120 battements par minute/20 Beats pro Minute" rückt ihn nun schlagartig ins Rampenlicht.

Er handelt vom Kampf einer Gruppe Pariser Aktivisten in den frühen Neunzigerjahren, die mit ihrer Organisation Act Up das tödliche Schweigen durchbrechen wollen, das die wachsende Zahl der Aidstoten zu dieser Zeit umgibt. Robin Campillo hat diesen Kampf selbst gekämpft. Er war Teil einer wild zusammengewürfelten Gemeinschaft von meist bereits HIV-infizierten, lustigen, klugen, unheimlich wütenden jungen Menschen, hat mit ihnen demonstriert und protestiert. Sein Film ist aber nicht nur ein neues, schlagendes Beispiel für die Kraft und Präzision der gelebten Erfahrung im Kino, mit größtenteils ganz unbekannten, hungrigen Darstellern. Er feiert auch die Zeit vor dem Internet, wo Aktivismus noch physische Präsenz und Körpereinsatz bedeutet hat, Nähe und Erotik, ein Ringen um Sichtbarkeit. Das Spannendste aber ist, dass hier Jugend, Sex, Diskurs, Revolution und Veränderung, die ältesten Träume des französischen Kinos, wieder unheimlich vital wirken - weil die Perspektive von Radikalität und Marginalisierung einmal nicht nur vorgetäuscht oder geborgt ist.

Um all diese Dinge geht es dann angeblich auch in "Le Redoutable / Der Furchterregende" von Michel Hazanavicius, der allen Ernstes zweierlei versucht: die politische Radikalisierung Jean-Luc Godards in den Unruhen des Mai 1968 zu erzählen, bis er dem Autorenkino abschwört und das Filmkollektiv "Dziga Vertov" gründet; und zugleich das Scheitern seiner Ehe mit der 19-jährigen Anne Wiazemsky, seiner Hauptdarstellerin in "La Chinoise". Hazanavicius agiert dabei, als wäre der 86-jährige Godard schon tot. Sein Film ist eine derartige Anmaßung, dass man sich hier tatsächlich einmal Persönlichkeitsrechte wünscht, die ihn verhindert hätten.

Rein formal rechtfertigt sich das üble Unterfangen damit, dass Anne Wiazemsky zwei Bücher über ihre Zeit mit Godard geschrieben hat, die hier angeblich als Grundlage dienen. Tatsächlich aber will Michel Hazanavicius eigentlich nur seine eigene Position als relativ geistesschlichter Unterhaltungsfilmer gegen Godards viel radikalere Weltsicht des Zweifels ins Feld führen. Er gibt vor, Godards Denken authentisch darzustellen, um dann aber in wirklich jeder Szene das letzte Wort zu behalten, einen kleinen Sieg für sich selbst zu inszenieren und seinen Gegner wie einen Trottel aussehen zu lassen. So darf man herzlich lachen, wenn Godard immer wieder seine Brille zertritt, und sich empören, wenn er sich wie ein weinerliches Arschloch aufführt. Das Ganze ist derart ärgerlich, dass man auch Hazanavicius danach einen Filmtitel verpassen möchte: "Le dégoûtant / Der Widerliche".

In der ewigen Frage, ob und wie das Kino die Menschen erreichen kann, ohne seinen Anspruch aufzugeben, sie zugleich auch zu verändern, ist mit diesen beiden Filmen nun wirklich ein weiter Diskurs aufgemacht. Und irgendwie hofft man, dass auch Michael Haneke mit seinem "Happy End" sich da einschaltet, dass er bei seiner eigenen lebenslangen Suche nach diesen Fragen noch ein Stück weiter gekommen ist. In dieser Hoffnung steckt allerdings auch eine Tonnenlast der Erwartung: Kann man der gültigen Antwort, die er in seinem Meisterwerk "Amour" gab, im Ernst noch etwas hinzufügen? Vor fünf Jahren hat Haneke in Cannes mit "Amour" seine zweite Goldene Palme gewonnen, und daran knüpft er nun tatsächlich an, wenn der inzwischen wirklich sehr greise Jean-Louis Trintignant wieder ins Bild kommt. Er spielt einen Bauunternehmer in Calais, der sich eine riesige Villa erarbeitet hat, in dem ein Teil seines Familienclans wohnt: die Tochter (Isabelle Huppert), die das Unternehmen jetzt führt, der Sohn (Mathieu Kassovitz), der Chefarzt ist, dessen Frau mit Baby, dazu eine Tochter aus der vorherigen Ehe, zwei Bedienstete, und so fort.

Die Verbindungen gehen aber noch weiter. Trintignant erzählt einmal, dass er seine todkranke Frau nach langem Leiden selbst erstickt habe - als sei "Happy End" tatsächlich eine Fortsetzung von "Amour". In anderer Hinsicht kann das nicht sein, aber recht schnell begreift man den Plan: Dieser Film ist eine Art Kompilation all der Themen, die Haneke in den letzten dreißig Jahren beschäftigt haben. Es gibt frühpubertäre Jugendliche, die der Medienkonsum zu mitleidlosen Voyeuren gemacht hat, es gibt Eltern-Erwartungsterror mit verheerender Wirkung auf Kinderseelen, es gibt die Schuld der Habenden gegenüber den Besitzlosen, es gibt falsche bürgerliche Fassaden und die lebenszerstörende Wirkung einer sexuellen Obsession.

Der Film wirkt, als habe ein Einzelgänger die Anarchie einer Großfamilie imaginiert

Was es diesmal aber nicht gibt, ist diese radikale, ästhetische wie erzählerische Geschlossenheit, die so viele Haneke-Filme zu einer unentrinnbaren Erfahrung gemacht hat. Hier hat man das Gefühl, dass die Teile nicht zusammenpassen, vieles bleibt skizzen- und rätselhaft, und dort, wo der Film die Welt von Teenagern und Social Media berührt, wird sein mangelnder Kontakt zur Gegenwart offensichtlich. "Happy End" wirkt, als habe ein eingefleischter Einzelgänger die Anarchie eines großen Familienclans imaginiert. Aber ohne Zugriff auf jenen Reichtum an Details, der so ein großes Haus erst wirklich zum Leben erweckt - und die Lebenslügen darin fühlbar macht.

Was dann wieder zurückführt zur Debatte um die ewige Hierarchie der Filmemacher, ausgelöst durch die rätselhafte Namensfolge im Treppen-Trailer des Festivals. Die neueste Erkenntnis ist, dass es offenbar für jeden Tag und jedes Kino immer andere Trailer gibt, mit ständig wechselnden Namen. Einmal ist Antonioni auf der obersten Stufe, gefolgt von Fellini, dann wieder Coppola, gefolgt von Resnais, am Morgen war Robert Altman das letzte Wort. Vielleicht folgt das tatsächlich einem geheimen System. Vielleicht ist die Botschaft aber auch nur, dass eben niemand alles kann. Jeder kann mal ganz oben stehen - um dann in der nächsten Auswahl schon wieder zu fehlen.

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Quelle:
SZ vom 23.05.2017
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