Cannes 2014:Aus feuchten Gräbern

Christina Hendricks und Ryan Gosling Premiere "Lost River" in Cannes

Christina Hendricks und Ryan Gosling bei der Premiere von "Lost River" in Cannes.

(Foto: Getty Images)

Ryan Gosling präsentiert in Cannes sein Regiedebüt "Lost River" über ein Suburbia voller Schauergeschichten. Applaus-Champion ist aber Wim Wenders mit seiner Fotografen-Doku "The Salt of the Earth".

Von Susan Vahabzadeh, Cannes

Cannes ist das wichtigste Filmfestival der Welt, weil sich dort die Prioritäten manchmal ein wenig verschieben. Nirgendwo sonst könnte Ryan Gosling größere Menschenaufläufe verursachen als Robert Pattinson. Pattinson war gleich mit zwei Filmen vertreten, in einer kleinen Rolle in David Cronenbergs Wettbewerbsbeitrag "Maps to the Stars" und in "The Rover", in der Nebenreihe Un certain regard. Aber als Gosling seine Regiearbeit "Lost River" zeigte, in der er nicht einmal mitspielt, war der Menschenauflauf trotzdem eindrucksvoller. Mit den Wartenden in den Schlangen vorm Kino hätte man locker noch zwei Säle füllen können. Für Gosling wurde drinnen dann auch ordentlich gejohlt - aber Applaus-Champion wurde ein ganz anderer: Wim Wenders, der die zehnminütige stehende Ovation am Ende seines Dokumentarfilms "The Salt of the Earth" sichtlich genoss.

Wenders hat den Film gemeinsam mit Juliano Ribeiro Salgado gemacht, über dessen Vater, den Fotografen Sebastião Salgado. Fotografie, das bedeutet Malen mit Licht, sagt Wenders' Stimme eingangs, und es geht dann tatsächlich um Salgados Bilder und nur am Rande um ihn selbst.

Salgado hat Minenarbeiter in Lateinamerika und die Hungersnot in der Sahelzone fotografiert, tote Kinder mit offenen Augen und brennende Ölfelder in Kuwait. Salgado ist der Zeuge, hört man Wenders sagen, der Condition humaine. Vor unseren Augen verwandelt sich die Erde in eine Hölle - und dann, am Ende, in ein Paradies. Salgado wurden all die Schrecken, die er abbildete, zu viel, er musste die Schönheit der Welt in Naturaufnahmen wiederfinden, und aus dem Reigen, den Wenders aus den Fotografien zusammenflicht, wird dann ein großes Bild, in dem alles ineinanderfließt: die tiefsten Abgründe und die schönsten Hoffnungsschimmer.

Die Sache mit der Hoffnung hält sich in Ryan Goslings Regiedebüt wiederum in Grenzen, im Spuk-Suburbia "Lost River", das ebenfalls in Un certain regard gezeigt wurde. Es geht um ein paar letzte Bewohner in einem ausgestorbenen Winkel von Detroit. Sicherlich eine Umgebung, die zu surrealer Spinnerei anstiftet: Immobilienkrise meets David Lynch meets Nicolas Winding Refn (letzterer saß bei der Premiere im Publikum).

In den Filmen von Goslings Vorbildern hat man vieles schon so ähnlich gesehen. Christina Hendricks wohnt in einem Haus mit ihrem Teenie-Sohn Bones und ihrem Kleinkind, und sie begegnen lauter seltsamen Gestalten. Einem Bankdirektor, der nachts einen Club betreibt, in dem Frauen auf der Bühne so tun, als würden sie sich die Gesichter aufschneiden. Und dem grausamen Bösewicht Bully, der sich auf ein Cabrio eine Art Königsthron gebastelt hat und die verbliebenen Mitmenschen terrorisiert. Alles sehr faszinierend unheimlich, ein Stückchen aufgegebene Zivilisation. Sind die Gäste in dem Folter-Nachtclub, in dem Eva Mendes auf der Bühne steht, aus den feuchten Gräbern des alten Friedhofs gestiegen, am Grunde des Stausees? Man weiß es nicht. Aber Gosling hat hier so viele Schauergeschichten ineinander geschachtelt, dass es auch schon egal ist.

Seelenloser Film-Roboter

Michel Hazanavicius hat vor drei Jahren seinen Siegeszug um die Welt mit dem Stummfilm "The Artist", der mit sechs Césars und fünf Oscars endete, im Wettbewerb von Cannes begonnen. Und genau hier wollte er dann beweisen, dass er nicht nur zum Spaß Filme macht. "The Search", mit dem er in diesem Jahr in die Konkurrenz um die Goldene Palme eingetreten ist, handelt vom Krieg gegen den Terror, Abteilung Ost: Der Film beginnt mit den Videoaufnahmen eines Soldaten, der einen russischen Einsatz in einem tschetschenischen Dorf filmt, 1999.

Brutal richten die Russen ein ganz offensichtlich unbedarftes Ehepaar hin, nehmen die älteste Tochter mit - drinnen im Haus kauert der neunjährige Sohn, Hadji, mit einem Baby auf dem Arm. Im Dorf ist niemand mehr, der Junge zieht alleine los, legt den kleinen Bruder unterwegs bei einer Familie ab, weil er ihn nicht versorgen kann. Schließlich geben ihn andere Flüchtlinge in einem amerikanischen Waisenhaus ab, geführt von Annette Bening - die hat man da bereits in einem anderen Erzählstrang gesehen, bei einem Schlagabtausch mit der lokalen Gesandten der EU-Menschenrechtskommission: Carole gespielt von Bérénice Bejo (der zu diesem Zeitpunkt bereits existierende Europäische Gerichtshof für Menschenrechte kommt aber nicht vor).

Wie auch immer: Hadji läuft weg, landet bei Carole, während parallel die ältere Schwester freikommt, das Baby findet und in Benings Waisenhaus als Betreuerin traumatisierter Kinder anheuert. Und dazwischen wird in einem weiteren Handlungsstrang aus einem netten russischen Jungen in der Armee durch konsequente Misshandlung ein brutaler Hund gemacht.

Emotionale Macht der Bilder

Man könnte sagen: Diese Mélange hat das Herz am rechten Fleck, ist aber nicht bei filmischem Verstand. Alle Eleganz, die "The Artist" auszeichnete, ist auf der Strecke geblieben. "The Search" strebt ächzend nach einer umfassenden Erörterung des Themas Tschetschenien, abwechselnd manipulativ und auf die Tränendrüse drückend - verlorene Kinderseelen! Die Protagonistinnen schmettern belehrende Grundsatzdialoge. Das ganze Projekt sieht so aus, als habe jemand am Schreibtisch eine To-do-Liste erstellt, wie man ein Publikum für das Elend der Tschetschenen interessiert und sie dann systematisch abgearbeitet - das Ergebnis ist ein seelenloser Film-Roboter.

Wenn Hazanavicius am Ende noch einmal einen Streifzug macht durch ein zerstörtes tschetschenisches Dorf, die Kamera an grässlich zurechtgemachten Leichen-Darstellern entlangfahren lässt, wird umso deutlicher, welche emotionale Macht die Bilder in "The Salt of the Earth" bei Wenders entwickeln - weil sich dort die Sichtweise dem Gesehenen anpasst, und nicht umgekehrt. Filmemacher sollten eben, wenn sie auf die Suche gehen, nicht vorher festlegen, was sie zu finden gedenken.

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