Meinungsfreiheit:Die verflixte Pflicht zur Rechenschaft

August 5 2017 Sesto San Giovanni Milan Italy The english singer and song writer Billy Bragg

Der britische Sänger und Songwriter Billy Bragg wies im Londoner Guardian darauf hin, was alle Bewegungen, die sich hinter Black Lives Matter, #MeToo oder Extinction Rebellion versammeln, gemeinsam haben: Sie fordern Rechenschaftspflicht von den Mächtigen.

(Foto: Roberto Finizio/ZUMA Press/imago)

Der Streit zwischen "Cancel Culture" und Liberalen, die überall überzogenen Moralismus wähnen, wird immer unerbittlicher. Wer schafft es, mit der Besonnenheit zu beginnen?

Kommentar von Jens-Christian Rabe

Um zu verstehen, was gerade für ein erbitterter Kampf tobt in den liberalen bildungsbürgerlichen Mittelschichten des Westens um Meinungsfreiheit und "Cancel Culture", hilft es inzwischen vielleicht, doch noch einmal festzuhalten, dass am erbittertsten gestritten wird zwischen denen, die sich nah sind. Unter den 153, teilweise weltberühmten, Intellektuellen, die im amerikanischen Magazin Harper's gemeinsam den neuen intoleranten linken Moralismus beklagen, dürften nicht wenige Lehrer oder sogar Eltern derer sein, die der "Cancel Culture" zugerechnet werden. Die also nicht mehr diskutieren wollen mit denen, die ihnen nicht passen, sondern bloß noch ihre Entlassung erzwingen. Aber nicht nur, weil sich beide Seiten so nah sind, wünschte man sich endlich etwas mehr Besonnenheit. Es gibt ja mit der erstarkenden Rechten auch noch andere, womöglich sogar gefährlichere Gegner.

Die Frage ist angesichts der Hitzigkeit der Debatte natürlich, wer es schafft, mit der Besonnenheit zu beginnen.

In der vergangenen Woche gelang es schon mal eher keinem. In der Welt etwa gab der New Yorker Politologe und Mitinitiator des Briefs in Harper's, Mark Lilla, ein Interview, in dem er die Gegenseite davor warnte, alles als ein "Machtverhältnis" zu sehen, und seinerseits behauptete, die anderen, also die, die ihn kritisierten, hielten keine Kritik aus und akzeptierten bloß, was in ihr Bild von der Welt passe. Ähnlich unreflektiert und dünnhäutig las sich dann der lange Kündigungsbrief von Bari Weiss, einer liberal-konservativen Meinungsredakteurin der New York Times.

Zum Abschied beklagte sie, dass auch bei der Times "die Wahrheit kein Prozess der kollektiven Entdeckungsreise" mehr sei, "sondern eine feststehende Meinung, die bereits einigen wenigen Aufgeklärten bekannt" sei, deren Aufgabe es nun bloß noch ist, "alle anderen zu beeinflussen".

Auf der anderen Seite stieß man an allen Ecken des Netzes auf verzweifelt-unversöhnliche, fast schon militante Kommentare wie diesen einer Zeit-Online-Leserin: "Wir, die jeden Tag unter Diskriminierung leiden, abends im Bett liegen und an unserer eigenen Würde und Gerechtigkeit zweifeln aufgrund des scheinbar nicht tadelnswerten Fehlverhaltens anderer, sind mehr. Und der Tag wird kommen, an dem diese ganzen Menschen knallhart aufbegehren. Wenn sich eine Gesellschaft nicht darauf einigen kann, dass antihumanistisches Fehlverhalten bestraft werden muss (no justice, no peace), dann wird es Bürgerkrieg geben, das war so und wird immer so sein. Und alle die jetzt im Namen des ,Intellekt' dagegen stehen, werden verlieren, Hochmut kommt vor dem Fall."

Einen Ausweg immerhin bot der britische Sänger und Songwriter Billy Bragg an. In einem angenehm unaufgeregten langen Stück im Londoner Guardian wies er darauf hin, was alle Bewegungen, die sich hinter "Black Lives Matter", "Me Too" oder "Extinction Rebellion" versammeln, gemeinsam haben: Sie fordern Rechenschaftspflicht von den Mächtigen. So gesehen zerstöre die "Cancel Culture" nicht die Meinungsfreiheit, sie fordere schlicht die überlieferte Ordnung auf, sich zu erklären. Eigentlich ein ganz normaler demokratischer Vorgang.

Bliebe nur ein kleines Problem: Die verflixte Pflicht zur Rechenschaft der Macht akzeptiert nur, wer sich selbst auch als mächtig wahrnimmt. Das scheint bei Weiss, Lilla und Co. aber keineswegs der Fall zu sein. Im Gegenteil, es wirkt, als ob sie sich trotz ihres Erfolgs und Einflusses selbst als Außenseiter sehen.

Die Antwort auf die Frage, warum das so ist, dürfte eine der zentralen Schlüssel zur Versöhnung sein. Noch hat ihn leider keiner gefunden.

Zur SZ-Startseite
J.K. Rowling

SZ PlusJoanne K. Rowling
:"Es ist kein Hass, wenn man die Wahrheit sagt"

Die britische Autorin Joanne K. Rowling könnte eine nationale Heldin sein, für viele Menschen ist sie das auch. Doch mit ihren Äußerungen über Transpersonen sorgt sie für Unmut.

Jetzt entdecken

Gutscheine: