Camilleri über Berlusconis Italien:"Neue Formen des Faschismus"

Erfolgsautor Camilleri klagt an: Jeder zweite Italiener könne nicht lesen und informiere sich nur übers TV - und das kontrolliert der "Verfassungsfeind" Berlusconi. Er warnt: Die Schäden des Systems Berlusconi werden jahrzehntelang wirken.

Andrea Bachstein

Andrea Camilleri, Drehbuchautor, Theater- und Filmregisseur und als Erfinder des Commissario Montalbano einer der meistgelesenen und -verfilmten Autoren Italiens, ist einer der wenigen italienischen Intellektuellen, die sich immer wieder dezidiert kritisch mit den politischen Entwicklungen in ihrem Land auseinandergesetzt haben.

Berlusconi mit schwerer Artillerie

Berlusconi mit schwerer Artillerie: Beim Karneval in Viareggio wird das Staatsoberhaupt als Medien-Kriegsführer persifliert.

(Foto: dpa)

SZ: Signor Camilleri, wie geht es Italien? Es feiert 2011 das Jubiläum der Einigung zum Staat.

Andrea Camilleri: Italien ist 150 Jahre alt, und es geht ihm schlechter als mir mit 85. Erste Jubiläumsfeiern gab es schon. Die Politiker der Lega Nord, des Koalitionspartners von Berlusconis PDL in der Regierung, sind ferngeblieben. Ich finde, Minister haben die Pflicht, an Veranstaltungen zur nationalen Einheit teilzunehmen. Einige Minister aber vertreten offen Ansichten, die das Gegenteil der Einheitsidee bedeuten. Ich bin kein Nationalist, das war ich nie, ich bin Kommunist. Aber man kann nicht im Zentrum des Staates Leute haben, die nicht an die Verfassung glauben. In Deutschland war damals einer der Vorwürfe gegen die RAF-Terroristen, dass sie Verfassungsfeinde waren. Das schien mir ein äußerst ernster Vorwurf zu sein. Auch bei uns gibt es Verfassungsfeinde, aber sie sind an der Macht. Und niemand klagt sie an.

SZ: Die Zeitungen berichten über all das umfangreich - sonst sind alle still.

Camilleri: Der Chef der Lega (Umberto Bossi, Föderalismusminister, Anm. d Red.) hat gesagt, mit der Nationalflagge putzt man sich den Hintern ab. Ich fand das einen fürchterlichen Satz. Weil er alle beschmutzt, die für diese Fahne ihr Leben gegeben haben. Er beschmutzt auch das Gedenken für die Toten unserer Tage, die aus Afghanistan zurückkommen und deren Särge mit dieser Flagge bedeckt werden. All das finde ich unerträglich. Und ich finde es unglaublich, dass die Italiener nicht reagieren.

SZ: Es gibt vieles, auf das die Italiener nicht reagieren. Haben Sie eine Erklärung dafür?

Camilleri: Dieser italienische Schlamassel existiert seit Jahrzehnten. Nach meiner Ansicht gibt es vor allem einen fortschreitenden Verfall der Moral in der bestimmenden Klasse, die die Bevölkerung stark beeinflusst hat. Wir haben die Redensart, der Fisch beginnt am Kopf zu stinken. Wenn der Kopf stinkt, ist klar, dass die Verwesung anfängt, sich auf das Land auszubreiten.

SZ: Früher oder später wird Berlusconis Zeit vorbei sein. Was wird bleiben, welchen Schaden wird er hinterlassen?

Camilleri: Als ich sehr jung war, 1945, unmittelbar nach der Befreiung Italiens, las ich einen Artikel des großen amerikanischen Journalisten Herbert Matthews. Die Überschrift hieß: "Ihr habt ihn nicht getötet." Er meinte, indem ihr Mussolini umgebracht habt, habt ihr nicht den Faschismus getötet. Er beschrieb, welche Schäden der Faschismus sogar in der DNS der Italiener hinterlassen habe. Und dass es Jahrzehnte brauchen würde, sie zu heilen. Damals hat mich das schrecklich wütend gemacht. Im Lauf der Jahre habe ich Matthews mehr und mehr recht gegeben. Der Faschismus ist wie ein mutierendes Virus. Und so befinden wir uns in neuen Formen des Faschismus. Es sind mutierte Formen. Deshalb glaube ich, die Schäden des Berlusconismus werden so sein wie die Schäden des Faschismus. Es ist wie eine Verseuchung des Wesens der Italiener.

Lesen Sie weiter auf Seite 2, wodurch das Land vergiftet wird.

Der italienische Schlamassel

SZ: Wie würden Sie das Gift beschreiben? Ist es der "Furbismo", über den Sie geschrieben haben, der Versuch, um jeden Preis gerissener zu sein als andere?

Camilleri: Wir waren schon vergiftet, jetzt kommt noch mehr dazu. Man muss sich nur die ständigen Erklärungen Berlusconis anschauen, die er dann zwei Stunden später wieder abstreitet. Das ist eines seiner Merkmale: sich selbst zu dementieren. Zu sagen, er sei nicht richtig verstanden worden, alles sei ihm verdreht worden. Zu sagen, er habe Erklärungen, die alle gehört haben, nicht gemacht. So hat Berlusconi behauptet, es sei richtig, Steuern nicht zu zahlen, wenn sie über eine bestimmte Höhe gehen. Das erste Mal war das vor der Finanzpolizei, die in Italien vor allem die Aufgabe hat, Steuerhinterzieher zu verfolgen. Er hat das bestritten, und kürzlich hat er es wiederholt. Das bedeutet, dass jeder Steuerhinterzieher - und in Italien gibt es viele - sich im Recht fühlt.

SZ: Wird auch die Justiz mit beschädigtem Ansehen zurückbleiben?

Camilleri: Auf jeden Fall. Berlusconi greift ständig die Richterschaft an und schwächt sie auf jede mögliche Art - sei es bei ihrer Arbeit oder persönlich. Ob schuldig oder nicht, die Beschuldigten bezeichnen sich immer als unschuldig. Und er redet dann von Verfolgung durch die Justiz. Eine Staatsgewalt versucht also eine Institution des Staates zu delegitimieren.

SZ: Auch mit Staatspräsident Giorgio Napolitano hat Berlusconi das versucht.

Camilleri: Er sieht alles gegen sich, was verfassungsgemäß ist und seinen Hegemonie-Vorstellungen entgegensteht. Nicht, weil Napolitano gegen ihn wäre, sondern weil Napolitanos Amt und Aufgaben ihn einengen. Neulich hat Berlusconi gesagt, er habe keinerlei Macht. Die Macht hätten die Staatsanwälte, die sich ans Verfassungsgericht wenden, wenn ihnen ein Gesetz nicht gefällt. Das Gericht würde dann dieses Gesetz einfach für ungültig erklären.

SZ: Als das Verfassungsgericht das Immunitätsgesetz verworfen hat, das ihn vor Prozessen schützte, hat Berlusconi Dinge über das Gericht gesagt, die in jedem anderen westlichen Land zum Rücktritt des Regierungschefs geführt hätten.

Camilleri: Berlusconi verkörpert eine Anomalie in der italienischen Demokratie. Es gibt die enormen Interessenkonflikte Berlusconis. Zum Beispiel war der Wirtschaftsminister Scajola gezwungen, zurückzutreten (im Mai, wegen einer Korruptionsaffäre, Anm.d.Red). Dieses Ministerium ist zuständig für die Abkommen mit dem öffentlichen und privaten Fernsehen. Berlusconi übernimmt interimistisch das Amt und versichert dem Staatsoberhaupt, es sei nur für kurz. Sonst wäre es ein monströser Konflikt von Interessen. Es sind jetzt zwei Monate vergangen, und Berlusconi ist immer noch Wirtschaftsminister. Und als Minister sagt er, ich bin allmählich in Versuchung, den Betreibervertrag mit dem staatlichen Sender Rai nicht zu erneuern. Das sagt der Chef des Konkurrenten der Rai! (Dem Berlusconi-Konzern Mediaset gehört die größte private Senderkette in Italien, Anm. d. Red.) Ich glaube nicht, dass es irgendwo sonst eine ähnliche Situation geben könnte. Deshalb sehe ich schwarz für Italien. Auch, weil die Opposition nicht die Kraft hat, Opposition zu sein. Weil die Entwicklung der linken Parteien leider zu ihrer fortschreitenden Entfernung von den Leuten geführt hat. Die Lega Nord dagegen macht es mit großem Erfolg andersherum.

SZ: Hat man das bei der PD wenigstens begriffen?

Camilleri: Ich weiß nicht, ob sie das verstanden hat. Die PD hat zum Beispiel nie die Wichtigkeit des Fernsehens in Italien begriffen. Und begreift sie weiterhin nicht. Sie glaubt, im Fernsehen aufzutreten, wäre schon genug, um alles zu richten. Der bedeutende Linguist Tullio de Mauro hat eine sehr erhellende Untersuchung über den Bildungszustand Italiens veröffentlicht. 2008 - und ich glaube nicht, dass sich die Zahlen entscheidend verbessert haben - gab es zwei Millionen völlige Analphabeten. 13 Millionen Halb-Alphabeten, Leute, die ihren Namen schreiben können, aber nicht fähig sind, die Zeitung zu lesen. 15 Millionen sind sekundäre Analphabeten, sie konnten schon lesen und schreiben, haben es aber wieder verlernt. Das sind in meinem Land also 30 Millionen Einwohner (von rund 60 Millionen, Anm. d. Red.). Die einzige Information dieser Analphabeten ist das Fernsehen und nicht die Zeitung. Zeitung lesen ungefähr 20 Prozent der Bevölkerung. Von diesen 20 Prozent lesen zwölf Prozent nur die Überschriften. Und man muss bedenken (lacht), dass in Italien die Überschriften fast nie mit den Artikeln übereinstimmen.

SZ: Das Fernsehen ist also das Machtmittel schlechthin?

Camilleri: Das Fernsehen sieht so aus: Drei Sender gehören Berlusconi. Von den drei Staatsprogrammen, die er als Regierungssender ansieht, werden zwei direkt kontrolliert von Leuten seiner Partei. Das erste Programm befindet sich ganz in der Hand von Berlusconi. Er hat dort einen Direktor eingesetzt, der, anstatt wichtige politische Nachrichten zu bringen, zum Beispiel über so ferne Dinge wie Rübenzucht in Indochina redet. Nur ein Programm ist frei.

SZ: Das dritte Programm steht aber unter wachsendem Druck wegen kritischer Sendungen.

Camilleri: Ein Überleben unter Dauerangriff. Dann gibt es den Sender La 7 (Telecom Italia, Anm. d. Red.), der eine gute Verbreitung hat. Es steht also 2:5.

SZ: Warum sieht man - auch im Fernsehen - italienische Politiker nie mit Intellektuellen reden? Haben sie Angst?

Camilleri: Politiker hegen immer Misstrauen gegen die Kultur - jedenfalls die derzeitigen tun es. Wir wollen nicht auf Italien und seine Geschichte spucken, in der es höchst gebildete Politiker gab. Heute gehören sie einer schlechter gebildeten Kategorie an. Deshalb erschreckt sie die Kultur. Das sieht man auch an der Politik des Kulturministers Sandro Bondi: ein ständiges Streichen des Streichbaren. Auch Schule ist Kultur, und so wird bei der Schule ebenfalls gestrichen. Zugunsten der privaten Institute, die meistens von Priestern geleitet werden. Das ist auch ein Tabuthema.

SZ: Man hat den Eindruck, dass sich nicht viele junge Intellektuelle zu Wort melden - außer Roberto Saviano, der Autor von Gomorrha ...

Camilleri: Doch, es gibt sie. Umberto Eco ist zwar nicht mehr ganz jung, aber Vincenzo Cerami und Francesco Piccolo. Vielleicht hat aber die Mehrzahl der Intellektuellen eine andere Idee von sich und findet, sie sollten sich nicht die Hände schmutzig machen beim Einmischen in die Politik. Deshalb gehen die Intellektuellen, mich eingeschlossen, dorthin, wo sie Platz finden - in die Zeitungen der Opposition. Sie predigen zu sich selbst.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: