Kolumne "Nichts Neues":Der perfekte Popsong

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Spüren, dass man am Leben ist: der Song "Nine Out Of Ten" von Caetano Veloso. (Foto: Philips)

Diedrich Diederichsen über Caetano Velosos "Nine Out Of Ten".

Von Johanna Adorján

Es gibt ein dickes Buch über Popmusik von Diedrich Diederichsen, das der Einfachheit halber auch gleich so heißt, "Über Popmusik". Darin steht auf Seite 364 ganz beiläufig folgender Knallersatz, beinahe liest man über ihn hinweg: "In den 1970er Jahren lebt Caetano Veloso im Exil in London und schreibt den perfekten Pop-Song ,Nine Out Of Ten'." Den perfekten Popsong. Steht einfach so da. Und dann nimmt Diederichsen diesen Song auf eineinhalb Seiten auseinander, mit dem ganzen intellektuellen Fremdwortbesteck, das ihm zur Verfügung steht, und setzt ihn vor dem inneren Ohr des verblüfften Lesers wieder zusammen zu einem knapp fünfminütigen Meisterwerk, wie es die Welt zuvor nicht gekannt hat, jedenfalls offenbar nicht in dieser Perfektion.

Der Song stammt aus dem Jahr 1972 und handelt davon, dass der Sänger, der Brasilianer Caetano Veloso, 1942 in Bahia geboren und damals im englischen Exil lebend, die Portobello Road in London entlangläuft mit einem immensen Glücksgefühl im Bauch, das sich aus seinem Wissen speist, in diesem Augenblick am Leben zu sein. Er weiß, dass er eines Tages sterben wird, singt er, aber: "I'm alive". Dieses Wissen um die eigene Sterblichkeit, die den gegenwärtigen Moment so kostbar macht, evoziere nicht nur, wie es sonst nur Instrumentalmusik gelänge, ein "absolutes Now", schreibt Diederichsen, sondern es erzähle dieses Now, das hier mit dem Motiv des final blast kontrastiert wird, dem letzten Knall (dem Tod). Hier löse sich der Traum des Popsongs endlich ein. Es ist jetzt: die Gegenwart als einzige Gewissheit, hier werde sie konstatiert.

Was Diederichsen gar nicht erwähnt, ist, wie unendlich bezaubernd der Song musikalisch ist. Mit einem sanft wiegenden Reggae-Beat, mit dem ja sowieso alles ein bisschen ist wie in einem Traum, als ginge einen die pünktlich auf die Eins getaktete Realität nicht richtig was an. In der dritten Strophe verrät Veloso, woran er merkt, dass er am Leben ist: Neun von zehn Filmstars brächten ihn zum Weinen. "Nine out of ten movie stars make me cry / I'm alive / And nine out of ten film stars make me cry / I'm alive". Ist das nicht schön?

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