Süddeutsche Zeitung

Burgtheater Wien:Wenn das Hirn davonstürzt

Lesezeit: 4 min

Manisch-depressives Theater: Joachim Meyerhoff spielt den Schriftsteller Thomas Melle, der im Buch "Die Welt im Rücken" von seiner bipolaren Störung erzählt. Dabei kommen viele Tischtennisbälle zum Einsatz.

Von Wolfgang Kralicek

Durch das ohnedies schon enge Foyer des Wiener Akademietheaters drängt sich - "Lassen Sie mich bitte durch!" - ein freundlicher, aber sichtlich etwas überforderter Mann mit sperrigem Gepäck: Er schiebt eine zusammengeklappte Tischtennisplatte vor sich her. Es ist der Schauspieler Joachim Meyerhoff, und er ist offenbar schon voll in der Rolle, was in diesem Fall bedeutet: eine Spur daneben. Meyerhoff spielt den Schriftsteller Thomas Melle, dessen autobiografisches Buch "Die Welt im Rücken" (2016) im Akademietheater, der Zweitspielstätte des Wiener Burgtheaters, nun erstmals auf die Bühne kommt. Der Regisseur Jan Bosse hatte ursprünglich den Flaubert-Roman "Bouvard und Pécuchet" inszenieren wollen, aber dann lasen er und Meyerhoff Melles Text und waren so begeistert, dass sie umdisponierten.

Wenn die manische Phase ihren Höhepunkt erreicht, hält Melle sich für den Messias

Ein Buch wie "Die Welt im Rücken" sucht seinesgleichen: Ein manisch-depressiver Autor - Melle findet, dass "manisch-depressiv" es besser trifft als das heute gebräuchliche "bipolar" - rekonstruiert und analysiert seine eigene Störung, brillant, schonungslos und ohne fiktionalen Filter. Drei manisch-depressive Episoden - 1999, 2006 und 2010 - hat Melle bisher durchlebt, wobei diese bei ihm jeweils mindestens ein Jahr andauern. Während der Spuk bei vielen Erkrankten nach ein paar Wochen wieder vorbei ist, hat Melle "die Jahreskarte" gezogen: "Wenn ich abrutsche oder hochfliege, dann für eine lange Zeit."

Während des Einlasses ist der Vorhang offen, der Tischtennistisch steht auf der ansonsten leeren Bühne. Meyerhoff ist schon da und spielt ein paar Bälle mit aus dem Parkett rekrutierten Partnern. Manchmal zerdrückt er die Bälle mit dem Schläger, später wird er sie sogar essen, irgendwann ist dann der ganze Bühnenboden übersät mit den kleinen weißen Bällen. Im Buch ist Tischtennis eigentlich kein Thema, es wird nur ein, zwei Mal am Rande erwähnt. Regisseur Jan Bosse und sein Bühnenbildner Stéphane Laimé benutzen es als spielerische Metapher dafür, wie ein System aus dem Ruder läuft. Der Tischtennisball ist der fragilste aller Bälle, auch das verbindet ihn mit dem bipolaren Helden des Stücks.

Der erste Teil der Aufführung entspricht dem ersten Kapitel des Buchs, das vom ersten Ausbruch der Krankheit handelt. "Etwas stimmt nicht", sagt eines Morgens beim Frühstück mit Freunden einer am Tisch zu ihm. Das findet er auch. "Ich meinte: mit der Welt. Er meinte natürlich: mit mir." Die Manie, so beschreibt es Melle, beginnt mit einer wochenlangen Inkubationszeit, "einem Dümpeln und Dämmern, vergleichbar mit der sprichwörtlichen Ruhe vor dem Sturm". Irgendwann kommt es dann zu einer "Explosion", einem "Gefühlsüberschuss", einer "Neuronenschwemme". Das Hirn "stürzt herrenlos davon" und füllt sich nach und nach mit neuen, falschen Gedanken. "Ein unaufhaltsamer, steter Prozess der Weltenbildung und Weltenvernichtung ist im Gange."

Wie man in seinem autobiografischen Roman "Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war" nachlesen kann, ist der Schauspieler Joachim Meyerhoff auf dem Gelände einer von seinem Vater geleiteten psychiatrischen Klinik aufgewachsen. Er dürfte also ganz gut wissen, worum es hier geht. Auf der Bühne steht aber kein Verrückter, sondern ein bloß etwas fahriger und nervöser Mann; er wirkt unsicher, so wie ein Schüler oder Student, der vor vielen Menschen ein Referat halten soll. Oder eben ein Schriftsteller, der es nicht gewohnt ist, im Scheinwerferlicht zu stehen. Das ist stimmig, weil Meyerhoff in erster Linie ja nicht den Kranken darstellt, sondern einen Autor, der sein Buch bei offensichtlich sehr klarem Verstand geschrieben hat.

Je tiefer sich die Erzählung in die Manie steigert, desto mehr kommt Meyerhoff ins Spielen, desto lauter und exaltierter wird er. Er verwandelt sich aber auch dann nicht in einen Maniker, sondern nur in einen Schauspieler, wenn man das überhaupt voneinander trennen kann. Das Theater wird von Theaterleuten im Scherz gern mit einer geschlossenen Anstalt verglichen. An diesem Abend kann man ganz unironisch sehen, dass da was dran ist: Theater spielen hat etwas Manisches.

In einer der stärksten Passagen des Buchs irrt Melle eine ganze Nacht lang durch Berlin, weil er auf eine Party eingeladen ist, von der er nur leider nicht weiß, wo sie stattfindet. Während er das erzählt, zerquetscht Meyerhoff einen mit Theaterblut gefüllten Tischtennisball auf seiner Stirn und spannt einen Wollfaden kreuz und quer über die Bühne; er ist jetzt ganz in seinem Wahnsystem gefangen. Dann rollt er ein Kopiergerät auf die Bühne, kopiert Gesicht, Brust und Extremitäten und tackert die Blätter zu einem grotesken Kreuzigungsbild an die Wand: Wenn die manische Phase ihren Höhepunkt erreicht, hält Melle sich nämlich für den Messias. Bald danach machen sich erste Anzeichen der Depression bemerkbar: "Ich gehöre nicht mehr zur Klasse der Menschen", sagt er, "sondern zu der der unbelebten Gegenstände."

Der zweite Teil der Aufführung setzt mit dem Beginn der zweiten manischen Episode ein. Melle hält sich gerade in Erlangen auf, wo er am Theater gemeinsam mit dem Ensemble ein Stück entwickelt: "Die Proben sind der Wahnsinn." Die Gelegenheit einer Theater-im-Theater-Situation greift Bosse dankbar auf: Auf der wieder leergeräumten Bühne sind ein Dutzend Bühnenarbeiter damit beschäftigt, einen Vorhang und ein riesiges, semitransparentes Kunststoffobjekt - vielleicht die amorphe Blase, in der sich der Protagonist bewegt - zu installieren. Wie der nervig aufgedrehte Meyerhoff ohne Unterlass auf die Bühnenarbeiter einredet, ihnen Anweisungen und Tipps gibt, von diesen aber konsequent ignoriert wird, ist einerseits quälend mitanzusehen, es macht aber auch Spaß. Auch das Buch ist immer wieder sehr komisch, und der Inszenierung gelingt es insgesamt gut, Melles Humor auf die Bühne zu übersetzen, ohne den Autor zu verraten. Er bildet sich zum Beispiel ein, mit Madonna geschlafen zu haben - nichts Besonderes übrigens, "Madonna ist nämlich gar keine Sexbombe" -, und in Wuppertal will er gesehen haben, wie Thomas Bernhard bei McDonald's am Bahnhof sitzt und verdrießlich einen Big Mac verschlingt.

Als Thomas Melle einen Selbstmordversuch unternimmt, retten ihm Abba das Leben. Er hängt schon in der Schlinge, als er auf einmal den Song "Fernando" im Ohr hat. Im Theater ist die Musik nur sehr leise zu hören, sie scheint von ganz weit weg zu kommen. Melle mag das Lied eigentlich gar nicht, es ist ihm "zu süßlich, zu träge, zu Abba". In dem Moment aber ist es Grund genug weiterzuleben. Der Abend nähert sich jetzt bereits der Drei-Stunden-Marke, das letzte Kapitel wird nur noch kurz skizziert. Dann entschwebt Joachim Meyerhoff mit der Blase nach oben, ein letzter Tischtennisball fällt auf die Bühne herab.

Am Ende weiß der Schriftsteller Thomas Melle, dass er auch eine mögliche vierte Manie überleben wird. Sein Buch wird ihm dabei helfen. "Die Welt im Rücken" ist aber mehr als ein Selbsthilfeprojekt. Man muss nicht bipolar sein, um zu begreifen, dass etwas nicht stimmt. Mit jedem von uns, aber schon auch mit der Welt. Dass ein Buch die Rettung sein kann, ist der tröstliche Gedanke, mit dem man diesen Theaterabend verlässt.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.3417446
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 14.03.2017
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.