Studie zur Bundestagswahl:Alles anders, nur nicht jetzt

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In der Schneekugel bahnt sich gerade ein Gewitter an. Es treffen nämlich zwei Gemütslagen aufeinander: Alle fühlen den Veränderungsdruck, aber die meisten wollen, dass alles so bleibt, wie es ist. (Foto: Imago)

Die Leute fühlen sich jetzt schon schlecht wegen Entscheidungen, die sie noch gar nicht getroffen haben: Wie das Rheingold-Institut die Stimmung vor der Bundestagswahl misst.

Von Cornelius Pollmer

Alle vier Jahre wird bei Stephan Grünewald ein Patient vorstellig, der zwar komisch angezogen und oft undurchsichtig ist, der aber interessante Sachen zu sagen hat. Dieser Patient heißt Deutschland, wobei das in doppelter Weise einer Präzisierung bedarf.

Es geht Grünewald, dem Gründer des Markt- und Medienforschungsinstituts Rheingold, in der seit 2002 vor Bundestagswahlen durchgeführten Eigenstudie um den wahlberechtigten Teil der Bevölkerung. 50 Wählerinnen und Wähler werden nach Parteipräferenzen und soziodemografischen Parametern zusammengestellt und in jeweils zweistündigen tiefenpsychologischen Interviews und Gruppendiskussionen gefragt, wie sie das Land wahrnehmen, die Stimmung, den Wahlkampf.

Stephan Grünewald und seine Kollegen führen ihre Gespräche nicht in therapeutischer Absicht, sondern mit dem Ziel, die sogenannte politische Gesamtsituation beschreiben zu können. Auf die Interviews folgt ein ausführliches Auswertungsgespräch der beteiligten Psychologen, wiederum daraus ergibt sich ein Papier als inhaltliches Kondensat. In diesem Sommer konnte die SZ sowohl an der Auswertung teilnehmen als auch deren Ergebnis vorab einsehen.

Das Ende von Kanzlerin Merkel, die Corona-Krise, die globalen Megaprobleme von Klimawandel bis zur Lage in Afghanistan - täglich quillt weiteres Ungemach in die Welt. Das Rheingold-Institut sieht die Wähler deswegen mit Blick auf den Herbst in einem "fatalen Machbarkeit- und Realisierungsdilemma", "sie erkennen zwar den dringenden Wandlungs- und Handlungsbedarf, sie sind aber gleichzeitig zu angstvoll oder zu bequem, um ihn in eine entscheidende Handlungsbereitschaft zu überführen".

Die Jungen wollen Freiheiten, die Älteren ziehen sich ins Schneckenhaus zurück

Die Gründe dafür sind leichter einzuschätzen als die Konsequenzen daraus. Grünewald und Kollegen schreiben, die harten Einschränkungen durch die Pandemie hätten bei vorwiegend Jüngeren das Bedürfnis gestärkt, jetzt kompensatorisch sommerliche Freiheiten zu genießen. Auch bei Älteren habe die Selbstbezüglichkeit zugenommen, in gleichwohl anderer Weise. Es sei in sinnbildlicher Weise ein Rückzug ins eigene Schneckenhaus zu beobachten, getrieben von der Sehnsucht nach Stabilität und Sicherheit. Im Ergebnis kümmerten sich viele Menschen darum, ihren Alltag wieder zu kontrollieren - den bisherigen Wahlkampf erlebten sie auch deswegen "als ein fernes und entrücktes Geschehen".

Die Kombination aus dem Rückzug ins Private und dem immer stärker spürbaren Veränderungsdruck führt zu ambivalenten Einstellungen, was die Bundestagswahl Ende September angeht. So konstatiert die Studie zwar eine Enttäuschung der Wähler darüber, dass nur "lädierte Macher" als Spitzenkandidaten führender Parteien den Wahlkampf bestritten. Annalena Baerbock habe es früh verbockt, Laschet sei zu lasch, Scholz zu stolz, Lindner zu selbstverliebt.

In der Schneekugel bahnt sich gerade ein Gewitter an. Es treffen nämlich zwei Gemütslagen aufeinander: Alle fühlen den Veränderungsdruck, aber die meisten wollen, dass alles so bleibt, wie es ist. (Foto: Imago)

In dieser Enttäuschung schwingt jedoch bereits Erleichterung mit, nur scheinbar ein Paradox. In der wahrgenommenen Schwäche der Kandidaten ist quasi die unausgesprochene Hoffnung eingepreist, dass diese Kandidaten nach der Wahl gar nicht so furchtbar viel verändern könnten wie sie müssten. Noch anders gesagt: Mit schwachen Kandidaten lässt sich Veränderung wählen, ohne wirklich welche befürchten zu müssen.

Derlei ließe sich jetzt wieder leicht abtun mit der leeren und gefährlichen Vokabel der "Politikverdrossenheit". Mit einem solchen Wort können handelnde Akteure mit Hang zum Selbstbetrug ganz wunderbar Exkulpation betreiben - die Leute wenden sich ab? Liegt nicht an mir! So einfach war es natürlich nie und ist es noch weniger in diesem Jahr. Exemplarisch berichten die Rheingold-Experten von ihren Gesprächen mit vielleicht bald ehemaligen Wählern der CDU. Eine gewisse "Fassungslosigkeit" habe sich unter diesen breitgemacht angesichts epidemischer Korruption und noch mehr deren Folgenlosigkeit.

"Wenn ich so etwas mache in meinem Leben, dann hat das Konsequenzen, und in der Politik passiert das ständig", zitierte eine Psychologin einen des Wutbürgertums eher unverdächtigen Probanden. Wenn in den explorativen Gesprächen dann alles zusammenkam - die rasant wachsenden Probleme der Welt und des Landes, die als defizitär wahrgenommene politische Klasse -, dann wurde es zwischen Wählern und Experten auch mal finster, ja, dann gewitterte es in der Zauberkugel.

Laschet wird als Witzfigur wahrgenommen, Habeck und Baerbock als Adam und Eva

In einer Gruppendiskussion "war so ein bisschen die Stimmung, Deutschland ist am Ende, und irgendwie hatten die mich dann fast überzeugt!", berichtete eine Expertin in der Runde bei Rheingold. Auch bei weniger Verzweifelten aber herrsche oft maximale Unentschlossenheit mit Blick auf die Bundestagswahl, "da warten alle sehr auf den Wahlomat" und "fühlen sich jetzt schon schlecht für das Kreuz, das sie wem auch immer dann geben werden".

Etwa 200 Studien führt Rheingold im Jahr durch, für Industrie, Medien, Politik. Ein "Kaleidoskop deutscher Befindlichkeiten" entstehe auf diese Weise, sagt Stephan Grünewald. Manchmal wird es dabei wirklich schreiend bunt, etwa dann, wenn es im Pressetext über "Sektmarken als Stimmungswandler" blubbert und wenn darin über die eine Marke referiert wird, sie dürfe "nie so eindeutig werden, dass der eigene Partner beim Anblick der mitgebrachten ... Flasche das Gefühl hat, am Abend erotisch performen zu müssen".

Bei der Bundestagswahl hingegen sollten Spitzenpolitiker beim Anblick der Bevölkerung durchaus das Gefühl haben, über den Wahlabend hinaus politisch performen zu müssen. Das Zwischenzeugnis bei Rheingold gibt es zwar nicht mit Ziffern bis in die erste Nachkommastelle. Aber klassische Umfragen erscheinen bei einem zunehmend nervösen und wechselwahlwilligen Volk ohnehin manchmal wenig aussagekräftig. Und qualitative Erfassungen in Wörtern müssen gerade vor diesem Hintergrund nicht zwangsläufig ungenauer sein als quantitative in Zahlen.

Armin Laschet hatte nach Erfassung der Rheingold-Probanden dabei als Kandidat des "Weiter-so mit kleinen Korrekturen" keinen schlechten Start. Die Chance auf ein wenig Merkel-Abglanz habe er aber "durch sein Lachen, das beinahe jeder Wähler in Erinnerung hat", vertan. Er sei in der Wahrnehmung auch dadurch von der Frohnatur zur Witzfigur geworden.

Die Grünen wiederum würden zwar in ihrem Wandlungsanspruch als glaubwürdig wahrgenommen, wichtiger als die Kandidatin Baerbock aber scheint den Wählern das "Ergänzungsverhältnis" zwischen ihr und Robert Habeck zu sein. Erst "als Adam und Eva" in dieser Weise würde die "fast paradiesische Vorstellung einer verkehrsberuhigten Welt" den dafür zwingend zu leistenden Verzicht überstrahlen.

Christian Lindner von der FDP werde, so Grünewald und Kollegen, "als inneres Kind des Wählers" wahrgenommen, das auch mal trotzig sein dürfe und das mit Fortschrittsglauben einen erlösenden Ausweg aus dem "Machbarkeitsdilemma" anbiete. Olaf Scholz sei vom "unsichtbaren Dritten" aufgestiegen zu einem Kandidaten, der Kontinuität verspreche wie sonst nur die CDU - sein Problem aber sei die SPD, mit der er im Guten wie im Schlechten nicht in Verbindung gebracht werde. Die Wähler hätten Scholz zwar auf dem Zettel, "werden ihn jedoch auf dem Wahlzettel nicht finden".

Die AfD, bei der letzten Wahl noch große geheimnisvolle Unbekannte auch der Vorwahluntersuchungen, kommt im Bericht von Rheingold als eine Art Auffangbecken für Deutschland rüber. Mit dem Kleinreden globaler Probleme wie dem Klimawandel aber mache sie immer noch mehr Wählern ein wahrnehmbares Angebot als die Linke, die "führungs- und konzeptionslos" gesehen werde.

Wie bei keiner Wahl zuvor, konstatiert Stephan Grünewald schließlich, dächten die Wähler "in Koalitionen" und würden Konstanz (CDU oder Scholz) anreichern wollen mit moderaten Anstrengungen (Grüne) und einem Korrektiv zum Erhalt persönlicher Freiheiten (FDP). Wie sich diese Absichten im Herbst in ein Wahlergebnis und dann eine Regierung übersetzen werden, weiß kein Mensch. Klar ist allerdings: Bei all den aktuellen und künftigen Verheerungen in der Welt wird ein Glas selbst sehr guten Sekts als Stimmungswandler nicht genügen.

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