"Bürgerlichkeit ohne Bürgertum":Heute mal ein Proletarier

Unterschichten gab es immer - nur der Umgang mit ihnen variiert. Das Buch "Bürgerlichkeit ohne Bürgertum" zeigt den Zwischenstand der neuen deutschen Bürgerlichkeitsdebatte.

Gustav Seibt

Die Umwälzung von 1989 hat auch im kommunistischen Weltteil die Grundprinzipien einer bürgerlichen Gesellschaftsordnung - ökonomischer Privatbesitz, politische Selbstorganisation, freie kulturelle Selbstverständigung - wiederhergestellt. Die Versuche des 20. Jahrhunderts zu kollektiven, staatlich reglementierten Vergemeinschaftungen wurden zu den Akten gelegt. Trotzdem bedeutet 1989 mehr als eine nachholende Revolution, weil die nun zusammenwachsende posttotalitäre Weltgesellschaft (auf Englisch: commercial-civil-creative society) längst im Bewusstsein der anderen Möglichkeit, also ihrer eigenen Nicht-Notwendigkeit existiert.

Joschka Fischer wird Rewe-Berater

Der "postrebellische Willensbürger": Joschka Fischer, hier beim Kosten von Erdbeeren in einer Einzelhandelsfiliale, deren Berater er nun wird. Rechts im Bild Alain Caparros, Vorstandsvorsitzender der Rewe-Gruppe.

(Foto: ddp)

So argumentiert der Soziologe und Hellmuth-Plessner-Verehrer Joachim Fischer in dem anregenden Sammelband "Bürgertum ohne Bürgerlichkeit", der die neue deutsche Bürgertums-Debatte zu einem Zwischenabschluss führt. Diesen weit gefassten, über Habitus- und Stilfragen hinausreichenden Bürgerlichkeitsbegriff sieht Fischer anderen soziologischen Gegenwartskonzepten wie "Kapitalismus" oder Systemtheorie oder gar beschreibenden "Wimmelbegriffen" wie "Risikogesellschaft", "Erlebnisgesellschaft" oder "planetarisches Kleinbürgertum" als deutlich überlegen an:

Denn er rückt die neue Weltgesellschaft in eine historische, dabei nicht geschichtsphilosophische Perspektive, und er gewichtet die Anteile von Unternehmens- und Kapitaleigentum, von zivilgesellschaftlicher Initiative und von individuellem Biographie-Design gleich; es gibt also nicht die eine ökonomische Basis, die den ganzen Rest erklärt, sondern es geht immer noch um die nur in der "okzidentalen Stadt" (Max Weber) entwickelte, äußerst wandelbare westliche Lebensform.

Das mag bedenken, wer vieles am neuen Bürgerlichkeitsdiskurs geschwätzhaft findet; selbst wenn man "Bürgerlichkeit" beispielsweise in der deutschen Nachwende-Gesellschaft nur als eines von mehreren Lebensstilangeboten relativiert, muss man doch zugeben, dass eben die Pluralität solcher Angebote etwas prinzipiell Bürgerliches ist. Auch wer sich für den stilistischen Proletarier-Retro entscheidet, tut dies, solange die Grundordnung bleibt, wie sie ist, im bürgerlichen Rahmen. Damit ist festgestellt, dass es mindestens zwei Ebenen in der heutigen Bürgerlichkeitsdiskussion gibt: die gesellschaftstheoretische einerseits und die immer noch ständische andererseits. Dies - übrigens eher unfreiwillig - immer wieder zu verdeutlichen, ist ein Verdienst dieses recht heterogenen Bandes.

Die Verachtung der altneuen Elite

Dort findet man ätzende Befragungen aus linksparteilich-klassentheoretischer Sicht ebenso wie hochfahrende Unterschichtsverwerfungen und Lebensführungs-Appelle aus den brillanten Federn von Karl Heinz Bohrer und Norbert Bolz. Marx und Nietzsche erstehen gleichermaßen aus ihren Gruften. Dazwischen tummelt sich der gewohnt ausgeruhte Heinz Bude, dem Joachim Fischer als lustigem "Theorietaktiker" ausdrücklich den seriösen "theoriestrategischen" Rahmen schaffen möchte.

Bude nämlich beobachtet im Übergang von der alten Bundesrepublik zur Berliner Republik die Ablösung eines klassenübergreifenden, sozialpartnerschaftlichen Modells der "Arbeitnehmergesellschaft" durch eine fordernde Bürgerlichkeit, die auf Eigenverantwortung, Familiensinn, Gemeinwohlorientierung setzt, natürlich in nach-adelig meritokratisch erneuerter Version. Bude wiederholt dabei seine schon 2005 vorgestellte deutsche Generationentypologie, die vom "Weimarer Restbürger" (Beispiel Hellmuth Becker), dem "skeptischem Neubürger" (etwa Joachim Fest) zum "postrebellischen Willensbürger" (Joschka Fischer) reicht.

Das Andere der Bürgerlichkeit - zählen überhaupt mehr als 20 Prozent unserer Gesellschaft im engeren Sinn dazu? - sind die jüngst neuentdeckten "Unterschichten" und der Staat. An die Unterschichten, die es, wie Hans-Ulrich Wehler gegen sozialdemokratische Tüteligkeit festhält, selbstredend immer gegeben hat, richten sich Angebot und Appell zur Verbürgerlichung (Fördern und Fordern); ihnen gilt auch die Verachtung der altneuen Elite, die mit der Zeitschrift Merkur den Sozialstaat als Mutti verachtet. Der Staat soll nur das Regelwerk für Geselligkeit und Markt sichern, ohne den Menschen deswegen die Gemeinschaftsformen vorzuschreiben. Von Fall zu Fall lässt er sich vom Protest aus der "bürgerlichen Mitte" zu Schlichtungsgesprächen bewegen.

Man merkt dem aus einer Tagung in Neuhardenberg im Jahre 2007 hervorgegangenen Band an, dass er im Kern bereits vor der Finanzkrise entstand. Seither sind die Sicherungsfunktionen des globalen Staatenverbunds wieder dramatisch ins Bewusstsein gerückt; und dass staatliche Friedensaufgaben nicht nur Recht und Ordnung, sondern auch soziale Grundsicherung umfassen, akzeptieren wir heute wieder leichter.

Die Transferleistungen, die der Staat den Wohlhabenden abverlangt, schützen diese vor sozialen Unruhen, ja selbst vor Bettelei. Und bei aller Skepsis gegen ökonomistische Reduktionen: Ohne stabiles Finanzwesen funktioniert der ganze Laden nicht. So beobachten wir derzeit bei Euro und Dollar den dramatischen Versuch, wieder einmal die Grundlagen der bürgerlichen Welt zu retten.

HEINZ BUDE, JOACHIM FISCHER, BERND KAUFFMANN (Hrsg.): Bürgerlichkeit ohne Bürgertum. In welchem Land leben wir? Wilhelm Fink Verlag, München 2010. 231 Seiten, 16 Euro.

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