Süddeutsche Zeitung

Bühnenkünstler mit Handicap:Traut euch!

Erfolgreicher Stand-up-Comedian im Rollstuhl: Was Tan Caglar geschafft hat, macht vielen Künstlern mit Handicap Mut. Das Thema Inklusion spielt im Kulturbereich eine immer größere Rolle.

Von Laura Schwärzler

Die Augen des Publikums sind auf den Comedian in dunkler Jeans, weißem T-Shirt und Sneakers gerichtet. Der Mann steht nicht auf der Bühne, sondern er sitzt - im Rollstuhl. Tan Caglar geht gleich in die Vollen: "Ich glaub', das ist auch einer der Gründe, warum ich hier heute auftreten darf. Der Sender hat sich gedacht: Wenn wir den Tan buchen, haben wir den Quoten-Behinderten und den Quoten-Kanaken in einer Person abgedeckt!" Die Menge lacht.

Der Hildesheimer hat familiäre Wurzeln in der Türkei und macht etwas Ungewöhnliches: Stand-up-Comedy im Sitzen. Künstler wie Caglar sind immer noch eine Ausnahme. Mit seiner Kunst will er Menschen ohne Handicap für den Umgang mit Menschen mit Behinderung sensibilisieren. Denn viele haben keinerlei Kontakte zu Letzteren. "Als ich noch laufen konnte, kannte ich auch niemanden im Rollstuhl", sagt Caglar. Der 40-Jährige sitzt aufgrund einer Rückenmarkserkrankung seit 15 Jahren im Rollstuhl. Von Rollstuhlfahrern habe die Mehrheit der Gesellschaft das Bild einer alten Frau mit einer Wolldecke über den Beinen im Kopf. Der Rollstuhl-Basketballprofi verkörpert das Gegenteil dieses Stereotyps: Er fuhr als erstes Rollstuhl-Model der Berliner Fashionweek vor vier Jahren gemeinsam mit über den Catwalk stolzierenden Models den Laufsteg entlang und spielte in der Soap "Berlin - Tag und Nacht" mit. Heute bringt er andere zum Lachen, doch der Weg dorthin war nicht einfach: Als klar war, dass er nicht mehr ohne Rollstuhl auskommen würde, hatte er zunächst mit Depressionen zu kämpfen. Später leitete Caglar Inklusions- und Integrationsseminare und bemerkte dabei, dass er die Leute mit Humor besser erreichen konnte als mit Ernsthaftigkeit. "Humor ist ein schönes Werkzeug, um sensible Themen anzusprechen", betont Caglar.

Mit seiner Comedy möchte er andere Menschen mit Handicap darin bestärken, an sich zu glauben und ihnen vermitteln, dass sie nicht allein sind. Sein Bühnenprogramm habe zum Beispiel auch schon einem Jungen, der im Rollstuhl sitzt, Mut gemacht, sich wieder in die Schule zu trauen, berichtet er. Im Gegensatz zu den Seminaren früher gehören jetzt auch Menschen ohne Erfahrung mit dem Thema Behinderung zu seinem Publikum. Ihnen hält er "ohne mit dem Finger darauf zu zeigen" den Spiegel vor, etwa, indem er auf der Bühne von Erlebnissen aus seinem Alltag berichtet: So hatte ihn ein Mann in der Kölner Fußgängerzone gefragt, ob er schon einmal versucht habe, zu laufen. Dabei erkennen manche Zuhörer sich selbst wieder - so können sie sich besser hineinfühlen, wie ihre Bemerkungen bei den Betroffenen womöglich ankommen. Da solche Liveauftritte in der Krise ausfallen, nutzt Caglar die Zeit für die Weiterentwicklung seiner Bühnen-Performance und verbringt mehr Zeit mit seiner Familie. Die derzeitige Situation bezeichnet er als "Rollstuhl für alle", denn es seien gerade alle eingeschränkt.

Der Sänger Felix Brückner beherrscht die Kunst der Selbstironie. Das kommt gut an

Beim Thema Inklusion denken die meisten an Schulen oder an soziale Wohnprojekte, aber kaum an die Kultur, wenngleich auch in diesem Bereich Inklusion eine große Rolle spielt: etwa bei der vierköpfigen Band "Fheels" aus Hamburg. Drei ihrer Mitglieder laufen auf die Bühne, eines wird dorthin getragen - der Sänger Felix Brückner. Nachdem der 32-Jährige auf die Bühne gehoben wurde, lockert er gerne die Stimmung auf: "Habt ihr schon mal so einen coolen Bühnenaufgang gesehen?"

Den vier Musikern, die sich auf Blues, Rock oder Soul konzentrieren, ist es wichtig, keinen Unterschied zwischen den Bandmitgliedern zu machen. "Von Beginn an war es normal, dass ich im Rollstuhl sitze, und wir haben es vergessen", sagt Brückner, der querschnittsgelähmt ist. Mit starker Willenskraft überwand der studierte Sozialpädagoge viele Hürden, um sich seinen Traum zu erfüllen: professioneller Musiker und Sänger zu werden. Für seine Aufnahme als Student der Hamburg School of Music war ein phonetisches Gutachten Voraussetzung. Hierfür ließ er sich beim Facharzt durchchecken. Das Singen sei im Sitzen und durch die Einnahme von Medikamenten schwierig, lauteten die Bedenken des Arztes. Dennoch hat Brückner das Studium abgeschlossen; seine Band hat bereits eine Deutschlandtour hinter sich. Im kommenden Frühjahr soll ihr erstes Album mit dem Titel "Fheelvalt" erscheinen. Bislang spielte die Newcomer-Band vor 30 bis 300 Zuschauern. Die Live-Auftritte fallen derzeit aus, doch in Zusammenhang mit dem neuen Album gibt es jede Menge zu tun, etwa in Sachen Design und Videoproduktion.

Auf kleinen Bühnen aufzutreten, stellt für Künstler mit Handicap ein besonderes Problem dar: Um zu diesen Bühnen zu kommen, muss meist eine Treppe in den Keller überwunden werden - einen Lift sucht man in alten Räumlichkeiten meist vergeblich. "Das zeigt, dass man nie erwartet hat, dass da mal jemand mit Rollstuhl auftreten wird", sagt Caglar.

Andererseits berichten Caglar und Brückner aber auch, dass viele Menschen bereit seien, ihnen zu helfen, wenn ein Auftrittsort nicht barrierefrei sei. Brückner ist auch Gesangslehrer, wodurch er in der gegenwärtigen Situation seinen Lebensunterhalt finanzieren kann, und engagiert sich für Bühnendarsteller mit Handicap ebenso wie für Zuschauer mit Behinderung. Er betreut als Dienstleister bei der Initiative "Barrierefrei Feiern" Veranstalter von Festivals. Zu dieser Vereinigung gehören Aktivisten mit unterschiedlichem Background, wie eine Kleinwüchsige, Blinde oder auch Menschen ohne Behinderung, die vielfältige Ideen einbringen. Sie alle verfolgen das Ziel, die deutsche Kulturlandschaft inklusiver zu machen. "Man muss Veranstalter dazu überreden, sich für inklusive Bands zu öffnen, und diese müssen sich trauen und motiviert werden, mehr Präsenz zu zeigen", fordert Brückner. Hier bestehe Nachholbedarf. Auch für das Publikum müsse der Konzertbesuch barrierefrei werden, betont der Sänger. Allzu leicht werde vergessen, dass auch Gehörlose die Stimmung auf Musikfestivals spüren wollten. Barrierefreiheit fängt schon allein bei den Toiletten an. Davon seien Dixi-Klos weit entfernt. Für Besucher, die einen Katheter legen müssen, brauche es eine gut belichtete Toilette und entsprechende Infrastruktur.

Tänzerin Kassandra Wedel findet, die visuelle Seite der Musik werde unterschätzt

Caglar oder Brückner treten auf öffentlichen Bühnen auf. Aber es gibt auch, speziell für Künstler mit Behinderung, Veranstaltungen von Behindertenwerkstätten. Das sind zwar schöne Erlebnisse für die Künstler und ihre Angehörigen, aber das Können ist dabei nebensächlich. Diese Auftritte können sogar negative Auswirkungen haben: Erfüllen die Darsteller die Erwartungen des Publikums nicht, bestätigen sich Vorurteile. "Es geht darum, eine kulturelle Sonderwelt für Menschen mit Behinderung zu verhindern. Es bringt viel mehr, wenn Künstler mit Handicap im normalen Kontext eingesetzt werden - wie die kleinwüchsige Schauspielerin Christine Urspruch in der Serie 'Tatort'", erläutert Reimar Neumann. Er leitet die Firma Handicap-Event-Management und betreut professionelle Künstler mit Behinderung.

Das Auge des Zuschauers sorge bei Auftritten von Darstellern mit Handicap für besondere Herausforderungen: So sitzt etwa einer der Sänger, die er managt, mit dem Rollstuhl auf einem Podest - für ein ausgewogeneres Bühnenbild. Die anderen Bandmitglieder müssen sich umso stärker bewegen, um die statische Wirkung des Sängers auszugleichen. Die Bewegungen von blinden Musikern seien verkrampfter und vorsichtiger als von sehenden Künstlern - und das werde vom Publikum häufig als negativ wahrgenommen. Auch in Sachen Marketing gebe es Schwierigkeiten: Bei einer Hardrockband mit einem Frontman im Rollstuhl sei es schwer, im Vorfeld zu vermitteln: Hier geht der Punk ab. Dies könnten sich Konzertbesucher nicht vorstellen, wenn sie das noch nie zuvor erlebt hätten. "Beim Konzert vergisst das Publikum die Behinderung nach zwei, drei Songs, und die Konzentration ist nur noch auf die Musik gerichtet", sagt Neumann. Mit Bezug auf Film und Fernsehen plädiert er dafür, dass Menschen mit Handicap eine Rolle verkörpern, bei der das Thema Behinderung für den Plot unbedeutend ist. Meist werden im Fernsehen jedoch selbst Rollen von Charakteren mit Behinderung mit Schauspielern ohne Handicap besetzt. "Cripping up" nennt sich dieses Phänomen. Es ähnelt dem "Blackfacing", bei dem sich Weiße das Gesicht schwarz schminken - auf der Bühne oder als Sternsinger.

Kassandra Wedel ist Schauspielerin und Tänzerin. Und sie ist gehörlos. In der Filmbranche bestehe das Problem darin, dass viele Regisseure in der Regel noch nie mit Tauben zusammengearbeitet hätten. "Ich werde daher häufig unterschätzt, und es wird zu viel auf das Defizit geschaut", so die Tänzerin. Im Theater sei man offener und experimentierfreudiger. Sie selbst nimmt die Taubheit nicht als Defizit wahr, die Stille sei nicht schlecht und schon gar nicht still. Sie fühle den Beat ebenso wie jeder Hörende auf der Tanzfläche im Club. Dadurch könne sie sich rhythmisch bewegen. Für sie ist der Tanz Ausdruck des Lebens: Sie tanzt für Gerechtigkeit und dafür, gehört und gesehen zu werden.

Von Lehrern habe sie in der Schule häufig vermittelt bekommen, man müsse hören können, um es im Leben zu etwas zu bringen. Trotz solcher Einschüchterungen hat die 36-Jährige ohne Hörgerät Abitur gemacht, mithilfe von Gebärdensprache an der Münchner Ludwigs-Maximilians-Universität studiert und mit ihrem Tanz Preise gewonnen - sie ist Hip-Hop-Weltmeisterin. Durch die Gehörlosigkeit entstünden neue Perspektiven, findet Wedel. "Musik ist für mich auch visuell, und ich finde es seltsam, dass man sie nur auf das akustische Hören reduziert", moniert sie. "Tänzer mit Behinderung können neue Bewegungen, Methoden und Kunstformen hervorbringen und Inspirationsquelle für Nicht-Behinderte sein."

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Quelle:
SZ vom 22.12.2020
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