Buch "to go":Lesen und lesen lassen

Bücherschrank

In Deutschland gibt es 3242 "offene Bücherschränke", und es werden immer mehr.

(Foto: Stefan Dimitrov/SZ)

In öffentlichen "Bücherschränken" wechselt Gedrucktes angenehm anonym den Besitzer. Was erzählen die Schränke über ihre Standorte? Eine Spurensuche.

Aus der SZ-Redaktion

Frankfurt

An manchen Morgen steht schon vor acht ein Auto im Halteverbot vor dem Bücherschrank, der Fahrer vertieft in das literarische Angebot. Ältere Damen sortieren aus, junge Studenten nehmen mit, Obdachlose bedienen sich, Managertypen besorgen sich Urlaubsliteratur, vom Umzug Geplagte wuchten taschenweise Lesestoff hinein. Selten ist Platz, fast immer auch die zweite Reihe im Regal besetzt: Frankfurt, Stadt der kritischen Theorie und der Buchmesse, ist auch die Stadt der Bücherschränke. 73 dieser meist rostbraunen Metallkästen mit Glastüren gibt es im Stadtgebiet, mit öffentlichen Geldern gefördert, gepflegt von Paten, die nach dem Rechten schauen. Wenige Bücher bleiben lange in den Schränken, manche nur wenige Stunden. Bei Martin-Suter-Romanen aus dem eigenen Bestand verwundert das nicht, bei Alexis de Tocquevilles "Über die Demokratie in Amerika" schon eher, und bei einem sehr alten und schlechten Kochbuchbuch über italienische Küche doch sehr. Jeder Besuch am Bücherschrank ist lehrreich, legt Vergessenes nahe und lädt zum Lesen von Klassikern ein. Max Frischs "Mein Name sei Gantenbein" soll es an diesem Sommertag sein. Oder doch, zum eigenen Fortkommen: "Easy zum Ziel - Wie man zum mentalen Gewinner wird"? Jan Willmroth

Hamburg

Ein einsames Regal auf einem Kirchplatz in Hamburg, Stadtteil Hoheluft-Ost, zwischen Eimsbüttel und Eppendorf, steht da wie ein verschrammtes Ausrufezeichen. Dunkles Holz, Glas vor den Fächern, falls es mal regnet, aber seit zwei Sommern ist die frühere Metropole des Dauerregens knallheiß. Gegenüber sind ein italienisches Restaurant, eine Vergolderei und eine Immobilienagentur. An einem schwülen Sonntag kümmert sich kein Mensch um diese Sammlung, aber sie ist gut bestückt, bestimmt sind es hundert Bücher. In der oberen Reihe Titel wie "Pferdehandel" und "Die unendliche Geschichte", daneben "Antiautoritäre Erziehung", weiter rechts "Das MBA-Studium", "Handbuch für die Familie", "Eine gefangene Liebe". Darunter: "Der Medicus", der neuere Ratgeber "Unser Baby" und "Septemberrosen". Außerdem die Wälzer "Der Schakal" und "Die Arche", noch eine Etage tiefer schmiegt sich "Felix und das liebe Geld" an "Zurück aus Afrika". Da wären auch noch ein Hamburg-Buch von 1976 sowie "Karriere Inside: Consulting", "Fünfzig Jahre Karl-May-Gesellschaft" oder "Vogelfrei". Irgendwann wird sicher wieder jemand zugreifen. Aber doch nicht an einem so schönen Hamburger Abend. Peter Burghardt

Nürnberg

Was macht das mit einer Halbmillionenstadt, wenn sie jahrhundertelang ohne geisteswissenschaftliche Fakultät auskommen muss? Es war ja nicht immer so. Nürnberg, das war das Intellektuellen-Nest der Renaissance, Dürer, Pirckheimer, Conrad Celtis. Später kamen Hegel und Ludwig Feuerbach in die Stadt. Dann war irgendwann Schluss. Die Universität ausgelagert nach Altdorf, wo Student Wallenstein sein Unwesen trieb. Später zog die Uni nach Erlangen weiter. Nürnberg wurde Geistesprovinz. Ein Absturz. Was das macht aus einer Stadt? Womöglich sieht man's am Bücherkasten auf dem Kaulbachplatz. Da steht das übliche Zeug, Gaby Hauptmann und Erich von Däniken. In den hinteren Reihen aber bekommt man den Eindruck, als würde da einer gezielt Gegengift in die Wunde der Stadt träufeln. Warum nicht den gesamten Dürrenmatt unters Volk bringen, jede Woche einen neuen Band, gut versteckt, fast wie Samisdat? Der gesammelte Kästner, offenbar gelesen. Oder Götz Alys "Die restlose Erfassung. Volkszählen, Identifizieren, Aussondern im Nationalsozialismus", aus dem Rotbuch-Verlag. Der Briefwechsel von Hannah Arendt und Karl Jaspers. Und kürzlich: Karl Philipp Moritz, sein "Anton Reiser" in dieser großartig edierten Beck-Ausgabe. Der Geist lebt weiter - in Nürnberg! Olaf Przybilla

Von Geltow bis München

Geltow

Es mag Zufall sein, aber das Außergewöhnliche findet sich in den unteren Reihen, für die man sich bücken muss in der "Bücherzelle" von Geltow in Brandenburg. In Augenhöhe steht das Erwartbare. Drei mal John Grisham, Buchclub-Rezepte zum Zubereiten von Gemüse. Am Rande Zufallsfunde, die von vergangener Zeit zeugen, was sich an ihrer Gestaltung und dem Geleitwort vom "Nationalrat der Nationalen Front der DDR" erkennen lässt. "Praktikus" heißt ein Buch aus dem Jahr 1980, VEB Fachbuchverlag Leipzig: Im Vorwort steht, dass "überall in unserer Deutschen Demokratischen Republik die Werktätigen im sozialistischen Wettbewerb an der Erfüllung und Überbietung der Volkswirtschaftspläne schaffen". Es ist eine Anleitung zur handwerklichen Selbsthilfe. Aus gleicher Zeit das fein gestaltete Kompendium zur "Farbgestaltung". Geltow liegt hinter Potsdam wie eine Pforte zum Havelland, dahinter öffnet sich der Schwielowsee. Mit Ortsmotiven bemalt, steht die "Bücherzelle" wie ein Schmuckstück an der viel befahrenen B 1: Eine Frau hält an, sucht schnell fette Bücher aus, "man nimmt immer zu viel". Aber der Winter komme bald. Unten finde sie Schätze, Romane wie "Der Derwisch und der Tod" von Meša Selimović, auf die man selten stößt. Jens Schneider

Berlin

Die Bude sieht schon etwas abgekämpft aus. Sie steht im "Prinzessinnengarten" in Berlin-Kreuzberg, einem urbanen Gemüsegarten. Hier kann man aufs Schönste unter Bäumen trinken oder in einer Holzbaracke namens "Wurmcafé" alte Bücher gegen noch ältere eintauschen. Hier lehnt sich der Ratgeber "Hamster" an "Koksblonde Bräute" von Franz Schulz, daneben "Bethlehem ist überall", geklaut aus der örtlichen Stadtbibliothek. Wer sich fragt, was für Werke die Kreuzberger der Nachwelt überlassen und warum, wird auf eine Zeitreise geschickt. Sie beginnt bei den stark zerlesenen "Studien über die durch H-Stück-Bau der Membran ausgezeichneten Gattungen Microspora, Binuclearia, Ulotrichopsis und Tribonema". Lucia Wichmann hat ihre Dissertation 1937 eingereicht, nicht ohne Hinweis, sie sei "arischer Abstammung und evangelischen Glaubens". Gezeichnet von der Zeit und ohne Buchrücken hat "Schicksal auf der Straße" von Fred Blitz ins "Wurmcafé" gefunden. In dem Kriminalroman von 1941 wird ein kindsmörderischer Uhrmacher der Todesstrafe zugeführt, "im Namen des Volkes". Nur unwesentlich fröhlicher geht es im "Programm für die Bildungs- und Erziehungsarbeit im Kindergarten" zu, herausgegeben vom Ministerrat der DDR. Dann vielleicht doch lieber "Vampire auf Schloss Zahnfleisch". Schöner lesen kann man jedenfalls nirgendwo. Constanze von Bullion

Karlsruhe

In Karlsruhe lassen sich ausrangierte Titel ohne schlechtes Gewissen entsorgen, in einem der 27 öffentlichen Bücherschränke. Andere freuen sich über das kostenlose Angebot, etwa eine ältere Frau auf dem Werderplatz in der Südstadt. Als sie die Sicherheitsglastür wieder zuschiebt, sagt sie zu dem Kind im Buggy etwas auf Russisch. Fünf russische Werke stehen drin, vier englischsprachige und jeweils ein polnischer und ein französischer Titel. In der Südstadt leben Migranten und Künstlerinnen, alte Menschen und junge, die Mischung spiegelt sich im Bücherschrank-Sortiment: Das reicht von Hanna Kralls Shoah-Erzählung "Herzkönig" über Leonie Ossowskis "Die große Flatter", Bert Brechts "Einakter und Fragmente" bis zu Jeffrey Eugenides Transgender-Buch "Middelsex". Angelique-Romane oder Thriller von Ken Follett gibt es aber natürlich und obendrein die komplette Ausgabe von Meyers 24-bändigem Taschenbuch-Lexikon. Vielleicht hat dieser Bücherschrank ja einen Paten, der nachts heimlich Simmel und Konsalik aussortiert. Es ist der erste Bücherschrank, den die Initiatorin Cornelia Holsten im Jahr 2010 im Stadtgebiet aufgestellt hat. Auf dem Werderplatz, zwischen Döner-Imbiss, Bioladen und der Sozialpädagogischen Alternative e. V. scheint ihre Idee wunderbar zu funktionieren. Carmela Thiele

Dresden

In der Neustadt betrinken sich jede Nacht die Suchenden und zwar so lange, bis sie in den Zufällen ihres Lebens so etwas wie einen Zusammenhang sehen, vielleicht sogar einen Sinn, den dann aber doppelt. Ihnen allen möge der Zufall respektive die Fügung erspart bleiben, beim Nach-Hause-Stolpern an der Bio-Kompanie "Grüntal" zu halten. Das Sortiment der verwitterten Buchkästen ist noch spärlicher als jenes des Ladens und es braucht schon die verschwenderische Neugier der Betrunkenen, um daran überhaupt Aufmerksamkeit zu verlieren. "Merde happens" - nämlich neben der Broschüre des Mädchengesundheitszentrums "Medea". Im anderen Kasten liegen die Erinnerungen Will Quadfliegs und ein Faltblatt über Heraklion. Literarisch gibt es hier gegenwärtig nicht viel zu holen, aber das Wort DICHTER wird in dieser Gegend wie gesagt eh meist als Komparativ gebraucht und für Betrunkene wie für Dresdner gilt, dass sie ohnehin lieber in der Erinnerung versinken. Vielleicht an Kästner, der ein paar Straßen weiter wohnte, aber nie solchen Schund besessen geschweige denn abgeladen hat. Vielleicht aber auch an Harry Mulisch, der einen Dresden-Roman schrieb, als die Stadt auch äußerlich kaputt war. Darin findet sich ein wunderbar Satz: "Dresden, sagte er und spürte den Geschmack von Silber im Mund." So ist es noch immer. Cornelius Pollmer

Germerode

In Germerode, gleich neben dem Dorfladen, steht eine gelb-grüne Telefonzelle mit der Aufschrift "Lesen gefährdet die Dummheit". In Städten gibt es oft in jedem Viertel öffentliche Bücherschränke. Auf dem Land sind sie rarer. Germerode liegt am nordhessischen Meißner, wo die Brüder Grimm einst nach dem Ursprung der Frau-Holle-Legende suchten. Ein hübscher Fachwerk-Ort, nicht einmal 1000 Einwohnern, gelegen jwd, wie man in Berlin sagt. Janz weit draußen. Ein Großstadt-Schnösel könnte meinen, dass sich in den zwei schmalen Regalen, gezimmert von heimischen Ehrenamtlichen, ältliche Langweiligkeiten finden. Pustekuchen. Klar, da steht Uta Danella neben Pearl S. Buck und einem Taschenbuch von Hera Lind. Darunter drei fein gebundene Biografien preußischer Prinzessinnen, bestens erhalten, vielleicht niemals gelesen. Aber man kann sich auch "Rückkehr nach Reims" ausleihen, den Roman des französischen Philosophen Didier Eribon, hierzulande erschienen 2016. Das Buch, man siehts, wurde gelesen. So wie die prächtige Vorkriegsausgabe von Ben Hur, noch in Sütterlin-Schrift. Die Zahl der Dumpfbacken auf dem Land ist selbstverständlich nicht größer als in den Metropolen. Dafür gibt es jwd oft weniger Kinder. Man sieht es. In der Telefonzelle stehen gerade einmal vier Jugendbücher. Susanne Höll

München

Stau am Bücherregal. Donnerstag gegen drei, Nordbad, liebenswert bourgeoises Schwabing. Es wird sehr entspannt beim Entlangradeln kurz angehalten und auf dem Sattel balancierend die Schiebetür aufgemacht, gekramt, geblättert. Eine Schülerin, ein Herr im Freizeitdress, eine Frau mit Lunchpaket. Ein älteres Ehepaar kommt kaum mehr an den ineinander verkeilten Fahrrädern vorbei, aber der Halt hier ist offensichtlich fester Programmpunkt ihres Nachmittags. Sie räumt noch ein bisschen, er setzte sich nebenan auf ein Bänkchen, und schlägt das erste Buch auf mit einer Lust in der Mine, als führe er mit dem Messer durch ein gut durchwachsenes Steak. Mmmmh, ein Buch! Was gibt es denn hier Gutes? Kurz selbst die Nase ins Regal stecken, in den feinen Geruch von gelbem Papier: Da ist ausreichend Triviales, viel Kanon: Fontane, Brecht, Tolstoi, Pessoa. Und die 1960 mit dem Leninpreis ausgezeichnete Feier der Kollektivierung der Landwirtschaft "Neuland unterm Pflug" von Michal Scholochow. Was ganz was Feines, so etwas bekommt man ja hier im Süden selten zu sehen. Erster Satz: "Die Erde quoll in der Regenfeuchte, und wenn der Wind die Wolken auseinander schob, wärmte sie sich wohlig in der hellen Sommersonne und dampfte." Marie Schmidt

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