Büchermarkt Türkei:Wo Lesen Strafe ist

Die überwältigende Mehrheit der Türken kann lesen - die meisten tun es nur nicht. Nur ganz sachte entsteht in der Türkei eine Kultur des Lesens.

Kai Strittmatter

Wer Freude hat am Gram über den Zustand der Welt und den des eigenen Volkes, der ist bei der türkischen Linken gut aufgehoben. Dass deren lustvolles Jammern nicht lauter durch die Straßen von Istanbul und Ankara schallt, liegt einzig daran, dass ihre Truppen durch mehrere Militärputsche und die Renaissance der Religion praktisch aufgerieben wurden.

Büchermarkt Türkei: Orhan Pamuk - der türkische Nobelpreisträger auf der Frankfurter Buchmesse. Für die Nationalisten ist er ein Verräter.

Orhan Pamuk - der türkische Nobelpreisträger auf der Frankfurter Buchmesse. Für die Nationalisten ist er ein Verräter.

(Foto: Foto: dpa)

Die letzten Aufrechten haben sich oft in kleine, aber feine Buchläden gerettet. Simurg im Herzen von Beyoglu, dem europäischen Istanbul, ist so eine Höhle, in der man sich auf zehn Quadratmetern verlieren kann und in der lautstark debattierende Kettenraucher noch immer besser gelitten sind als Schokolade essende Zufallsgäste.

Eine Katze hängt schnurrend über dem Computerbildschirm, ein Mädchen unter Baskenmütze blättert durch Zeitschriften, die Namen tragen wie Theorie oder Aufklärung, der Besitzer springt mit einem Plastikbecher Tee herbei. Das ist Ibrahim Yilmaz. Er verkauft Bücher. Oder, wie er sagt: "Spiegel im Blindenland."

Das Blindenland, das ist natürlich die Türkei. Steig hier in ein Flugzeug, sagt Yilmaz: "Die Ausländer erkennst du daran, dass sie ein Buch in der Hand halten." Und die Türken? "Die fragen den Ausländer neben sich, was in aller Welt er mit dem Buch tut."

Die Sprache kommt auf Gerichtsurteile aus der jüngsten Zeit. Ein Mann in der Provinz Rize hatte seine Frau verprügelt; jetzt muss der Mann ein Jahr lang Bücher lesen über "Wege zum Familienglück" und bei der Staatsanwaltschaft fünfseitige Exzerpte abliefern.

Oder der rechtspopulistische Unternehmer und Politiker Cem Uzan. Er hatte in einer Rede den Premier beleidigt. Das Urteil: Zwangslektüre von fünf Büchern über Aggressionsbewältigung. Der Buchhändler und Kleinverleger Yilmaz lächelt maliziös: "Nur in der Türkei kann Lesen eine Strafe sein."

"Wir haben einfach keine Lesekultur"

Die Zahlen scheinen Yilmaz Recht zu geben. Zwar können heute mehr als 82 Prozent der Türken lesen und schreiben - die meisten tun es nur nicht. 70 Millionen Türken gibt es, nur etwas weniger als Deutsche. Trotzdem werden in Deutschland vier Mal so viele Tageszeitungen verkauft wie in der Türkei. 1400 öffentliche Bibliotheken in der Türkei stehen mehr als 10.300 in Deutschland gegenüber.

Der Pädagoge Ferhat Özen befragte 2006 Gymnasialschüler im letzten Schuljahr. Die Hälfte sagte, sie habe in den vergangenen sechs Jahren nur ein einziges Buch gelesen außerhalb der Schule. In einer Umfrage der Handelskammer Istanbul aus dem selben Jahr, die die Istanbuler nach ihren wichtigsten Einkäufen gefragt hatte, war das Buch von der 86. auf die 116. Stelle abgerutscht. "Wir haben einfach keine Lesekultur", sagt Yilmaz.

Aber warum? Die Liste der möglichen Gründe ist lang. Die Armut des Landes etwa. Noch immer lebt ein Viertel der Türken unter der Armutsgrenze von 419 Lira (220 Euro) im Monat. "Aber auch Akademiker verdienen oft nicht mehr als 1000 bis 1200 Euro", sagt Yilmaz: "Nach Abzug von Essen und Miete bleibt da nicht mehr viel übrig." Schlecht für die Buchhändler: Wenn Studenten in der Türkei ein Buch brauchen, dann kauft es einer und alle anderen kopieren es.

Auch die Geschichte muss als Erklärung für die Lesearmut herhalten, etwa die im Volk verwurzelte Kultur der mündlichen Überlieferung von Märchen, Heldengeschichten und Liedern. "Das Fernsehen", meint ein Kunde im "Simurg", "hatte es einfach, da anzuknüpfen".

Die Sultane sind schuld

Zwar kam im Zuge der Europäisierung des Landes jenes Sprichwort auf, das zur Wertschätzung des Gedruckten mahnte: "Das Wort fliegt, das Geschriebene bleibt". Aber Acik-Radio - Lieblingssender der Istanbuler Intellektuellen - hat es geschafft, sogar diesen Spruch wieder in den Dienst der mündlichen Überlieferung zu stellen: "Das Wort fliegt . . .", jubelt der Werbeslogan des Radios.

Gerne schiebt man auch den osmanischen Sultanen die Schuld zu für die geringe Wertschätzung des Buches: 1729 erst nahm die erste türkische Druckerei ihre Arbeit auf. In den 200 Jahren bis zur Übernahme des lateinischen Alphabets 1928 erschienen insgesamt 27.000 Bücher auf Osmanisch und auf Türkisch. "Genau so viele wurden allein im Rekordjahr 2006 in der Türkei gedruckt", sagt Yilmaz.

Gern zitiert wird auch der Ausspruch des "Bärtigen Celal", eines bekannten Lebensphilosophen und Mentors berühmter Dichter, der zu Beginn der Republik gesagt hatte, so viel Ignoranz sei nur durch Erziehung möglich. "Alles beginnt in der Schule", sagt Nermin Mollaoglu: "Die Lehrer sorgen dafür, dass die Schüler nicht zu Lesern heranwachsen."

Lesen Sie auf der zweiten Seite, warum der Markt für Bücher in der Türkei in den vergangenen Jahren stagnierte, obwohl sich die Bevölkerungszahl stark erhöht hat.

Wo Lesen Strafe ist

Mollaoglu hatte Glück: Sie fand in der sechsten Klasse einen Lehrer, der mit den Schülern einen Buchclub gründete. Heute leitet sie "Kalem", eine von fünf türkischen Literaturagenturen. "Wir haben in der Türkei keine Lesungen. Wir haben nicht ein einziges Literaturfestival", sagt sie. "Und die Leute gehen nicht in die Buchläden. Die meisten Läden verkaufen noch CDs und DVDs. Die Buchhändler haben keine Ahnung und du musst dich von Popmusik beschallen lassen, wenn du auf der Suche nach guter Literatur bist."

Mollaoglu verfasste unlängst eine Studie über die schwierige Arbeit von Verlagen in der Türkei, denen 1980 die Putschgeneräle ebenso zusetzten wie es heute die Raubkopierer tun: "40 Prozent aller verkauften Bücher sind Raubkopien", glaubt Mollaoglu. Allerdings sei es mit Zahlen und Statistiken generell schwierig in der Branche: "Die einen raten, die anderen erfinden welche."

Es ist aber längst nicht alles Düsternis, nicht in der Geschichte und nicht am Horizont. Die Büchernarren, es gab sie immer. Den Sultan Abdulhamit II., der sich Sherlock Holmes vorlesen ließ. Die Republikaner, die versuchten, mit "Volkshäusern" Kultur in die Provinz zu bringen (auch wenn ihr Enthusiasmus schnell erlahmte). Schulbücher für Erstklässler, die begannen mit dem Satz: "Lies, Ayse, lies!" (Der zweite Satz: "Ali, fang den Ball!").

Und heute? "Wir haben nun etwa drei Millionen Türken, die Bücher lesen", sagt Cem Erciyes, der die Buchbeilage der liberalen Zeitung Radikal leitet: "Das sind zwar nur fünf Prozent der Bevölkerung, aber es sind viel mehr als noch vor zehn Jahren."

Bestseller-Autor muss dazu verdienen

Es gibt mehr Verlage, mehr Buchhandlungen - und es gab geradezu eine Explosion an Neuerscheinungen von Romanen in den letzten Jahren. Und mittlerweile werden immerhin 15 bis 30 Bücher jedes Jahr zu Bestsellern mit mehr als 100.000 verkauften Exemplaren. "Die Buchmesse in Istanbul ist voller junger Leute, es wächst eine neue Generation heran, die sich mehr fürs Lesen begeistert", hat der Schriftsteller Mario Levi beobachtet.

Levis Roman "Istanbul war ein Märchen" wurde rechtzeitig zur Frankfurter Buchmesse von Suhrkamp ins Deutsche übertragen; in der Türkei hat er sich seit seinem Erscheinen 1999 mehr als 30.000 Mal verkauft.

Levi ist einer der bekanntesten Autoren des Landes. Von der Schriftstellerei leben kann er trotzdem nicht: "Deshalb muss ich weiter an der Universität die Werbetexterei unterrichten." Agentin Nermin Mollaoglu rückt die ermutigenden Zahlen weiter zurecht: "Es stimmt, dass die Zahl der neuen Romane explodiert ist - es gibt aber nicht mehr Käufer.

In den letzten zwanzig Jahren hat sich in der Türkei die Bevölkerungszahl stark erhöht, ohne dass der Markt für Bücher gewachsen wäre." Die Erklärung sieht sie in den gesunkenen Auflagen der Einzeltitel: Noch in den 1970er Jahren lag die durchschnittliche Auflage pro Buch bei 5000, heute liegt sie bei 1000 bis 1500. Das Resümee von Mollaoglu: "Mehr Titel und mehr Autoren teilen sich den gleichen Kuchen".

Was also liest der Istanbuler? Spaziergang in den Stadtteil Nisantasi, die Festung der säkularen Türken, zu Remzi. Remzi ist einer der ältesten Verlage und Buchhändler des Landes. Remzi ist auch bekannt für seine Bestsellerliste ("Ich trau' denen nicht", hatte uns Agentin Mollaoglu mit auf den Weg gegeben, "die schmuggeln immer eigene Bücher auf die Liste").

Der gesunde Menschenverstand schlägt sich nicht schlecht

Bei den Neuerscheinungen steht der islamische Guru Fetullah Gülen neben Islamkritikerin Ayaan Hirsi Ali. Auf dem Bestsellerregal neben John Steinbeck (Platz 33) und Paul Auster (8) die übliche Dosis Verschwörungstheorien: Mehrere Bücher über den ultranationalistischen Geheimbund Ergenekon, abgehängt allerdings von "Welches Europa?", einem Buch über den Geheimbund Europäische Union, in dessen Vorwort die ehemalige TV-Moderatorin und bekennende Kemalistin Banu Avar verrät: "Eines der beliebtesten Sprichwörter in Europa lautet: ,Um das Ziel zu erreichen, sind alle Mittel erlaubt' . . . Dazu verkauft der Westen Waffen und verteilt Nobelpreise . . ."

Das zielt auf Orhan Pamuk, den einzigen Nobelpreisträger der Türkei, dessen Elternhaus um die Ecke liegt und der den Nationalisten als Verräter gilt. Aus der selben Ecke diverse Enthüllungsbücher über unheilige Islamisten ("Allah und die Lüge - ein Verrat, der die Türkei unterhöhlt", 50. Auflage).

Aber der gesunde Menschenverstand schlägt sich nicht schlecht: Da steht das kluge Armenierbuch der Journalistin Ece Temelkuran, dann auf Platz drei gar die bemerkenswerte Lebens- und Leidensgeschichte von Bensiyon Pinto, dem ehemaligen Vorsitzenden der Istanbuler jüdischen Gemeinde. Auf zwei: Orhan Pamuks "Museum der Unschuld", der Roman, mit dem Pamuk sich endlich geliebt fühlen darf von seinen Türken. Ganz oben aber, auf Platz eins, ein Buch mit dem Titel: "Cahillikler Kitabi", das "Buch der Einfalt" - was sich, so sieht man das jedenfalls unter den rauchenden und grinsenden Debattanten in der linken Buchhandlung "Simurg", mit etwas bösem Willen auch übersetzen lässt als: "Bibel des Analphabetismus".

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