Bücherbus in Kabul:Für ein paar Stunden den Terror vergessen

Freshta Karim

Die Kinder von heute sollten etwas haben, das ihr in ihrer eigenen Kindheit fehlte, sagt Freshta Karim.

(Foto: AP)

Freshta Karim hat in Oxford studiert. Trotz aller Gefahren ist die junge Afghanin in ihre Heimat zurückgekehrt - und fährt nun mit einem Bus voller Bücher durch die Straßen Kabuls.

Von Anna Reuß

Jeden Tag macht sich Freshta Karim, unbeeindruckt von der Gefahr, in einem großen, blauen Bus auf den Weg durch die afghanische Hauptstadt Kabul. Darin hat sie eine Bücherei eingerichtet, mit Regalen voller Literatur, sogar mit Schreibtischen. Das ist etwas Besonderes in einem Land, wo vier von zehn Schulen nicht einmal ein Dach haben. Ihr Ziel sind die Wohnviertel der kriegsgeschundenen Stadt, wo es die Kinder kaum erwarten können, für ein paar Stunden den Terror zu vergessen.

Sie sollten etwas haben, das ihr in ihrer eigenen Kindheit fehlte, sagt die 25 Jahre alte Frau. Einen Ort, wo Gewalt keinen Platz hat, dafür aber die Magie der Bücher - wo Kinder Fragen stellen und ihren Gedanken freien Lauf lassen dürfen. Im Herbst 2017 beendete Freshta Karim ihr Studium in Oxford. Sie kehrte in ihr Heimatland zurück und gründete die Initiative "Charmaghz". Das Wort bedeutet Walnuss auf Persisch. An der Vorderseite des Busses prangt das Logo: Zwei Hälften, eine pinke und eine blaue. Zusammen sehen sie aus wie eine Walnuss, oder aber wie ein Gehirn. "Die Philosophie dahinter ist, dass wir mit dem Bücherbus eigenständiges und kritisches Denken fördern wollen", sagt Karim.

Sie selbst wurde 1992 geboren. Zur gleichen Zeit brach in Afghanistan ein Bürgerkrieg aus. Vier Jahre später übernahmen die Taliban die Macht. Karim flüchtete mit ihrer Familie nach Pakistan. Als sie 2001 zurückkehrte und wieder eine Schule besuchte, gab es dort nicht einmal Stühle. Ihr blieb es damals verwehrt, einfach in eine Bücherei zu gehen. Zusammen mit drei anderen Freiwilligen sammelt sie nun Spenden, um den Bücherbus zu finanzieren. Jeder von ihnen ist ein Kind des Bürgerkriegs. "Unsere Kindheit war bereits verloren, bevor wir sie erleben konnten."

Mit Bildung will Karim zum Wiederaufbau ihrer Heimat beitragen

Unter den jahrzehntelangen Konflikten in Afghanistan litt natürlich auch das Bildungssystem. Generationen von Kindern zahlten den Preis dafür. Unter den Taliban war es Mädchen verboten, eine Schule zu besuchen. Seit ihrem Sturz versucht die Miliz, die vom Westen unterstützte Regierung zu schwächen. Ihr Zorn trifft vor allem die Zivilbevölkerung. Heute entscheiden viele Eltern aus Angst vor Anschlägen und Entführungen, ihre Kinder nicht zur Schule zu schicken. Unicef zufolge besuchen 3,5 Millionen keine Schule, drei Viertel davon sind Mädchen. Im vergangenen Jahr wurden mehr als tausend Schulen geschlossen.

Mit Bildung will Karim zum Wiederaufbau ihrer Heimat beitragen. Die kleinen Besucher seien begeistert von der rollenden Bücherei. Anfangs gab es nur Literatur auf Persisch und Paschtu. Auf Drängen der Kinder wurden dann englische Bücher angeschafft. Die Analphabetenrate ist in Afghanistan mit 62 Prozent eine der höchsten weltweit - unter den Frauen liegt sie noch höher. Im Bücherbus gibt es dafür eine Lösung: Weil viele Jugendliche kommen, die keine Schule besuchen und nicht lesen können, sind immer zwei Freiwillige an Bord, die vorlesen.

Den Bus mietet Karims Gruppe von der Regierung, die Miete finanzieren sie durch Spenden. Bücher bekommen sie von Verlagen und Hilfsorganisationen geschenkt. Zwar ist das Geld knapp, doch Karim wirbt bereits um neue Spender, um bald einen zweiten Bus mieten zu können, denn bisher können sie nur in den Westen der Stadt fahren. Die Vereinten Nationen erklärten Kabul 2017 wegen der vielen Selbstmordanschläge zur gefährlichsten Stadt des Landes. Angst vor Anschlägen habe sie dennoch nicht, sagt Karim. Sie gibt sich pragmatisch: "Wir sind kein politisches Ziel." Natürlich könne der Bus in eine Bombenexplosion geraten, aber das Risiko trage jeder, der sich in der Stadt frei bewegt. Für sie überwiegt der Erfolg die Gefahr. Mehr als 600 Bücher stehen in den Regalen, 300 Kindern kann sie täglich eine Freude bereiten. Zwei Stunden bleibt der blaue Bus, bevor er in das nächste Viertel von Kabul fährt.

Zur SZ-Startseite

SZ-Serie - Stimmen aus Syrien
:Wir haben überlebt. Aber irgendwie auch nicht.

Der syrische Fotograf Anas al-Shamy erzählt, warum ihn bei seiner Flucht aus dem belagerten Ost-Ghouta die eigenen Landsleute mit Steinen beworfen haben - und warum er nicht mehr an Frieden glaubt.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: