Bücher über Behinderung:Unvollkommen schön

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Jedem Krüppel seinen Knüppel: Die Gesellschaft weiß mit Menschen, die nicht funktionieren, immer noch nicht umzugehen. Von der wahren Schönheit jenseits marktkonformer Standards.

Alexander Kissler

Ein Buch der starken Sätze und der verblüffenden Blickwinkel hat Tobin Siebers vorgelegt. Manchmal genügt es, die Sichtachse ein wenig zu verschieben, vom Rand her das Zentrum zu vermessen, um die Welt, die Kunst, das Leben aus den Angeln zu heben. Der utopische Ort, an dem alles eine neue Ordnung hätte, scheint auf in Sätzen wie: "Gute Kunst verkörpert Behinderung", "Akte des Vandalismus modernisieren Kunstwerke" oder aber der Erkenntnis, dass öffentliche Debatten über Krankheit und Gesundheit auch ästhetisch geführt werden. Gesund sein meint oft, der Hässlichkeit entronnen zu sein.

"zymotisch Beschleunigung, biogenetisches, desublimiertes, libidinöses Modell" heißt die Skulptur von Jake und Dinos Chapman, die in der vielbeachteten "Sensation"-Ausstellung gezeigt wurde. (Foto: Foto: SZ)

Siebers lehrt Kunst und Design an der Universität von Michigan in Ann Arbor. Sein erstes nun ins Deutsche übersetzte Buch bündelt "Essays über Kunst, Ästhetik und Behinderung", zielt aber auf das denkbar Größte, das Allgemeine. Wenn nämlich wahre Schönheit, eine Schönheit jenseits marktkonformer Standards, tatsächlich eine "ursprüngliche Verbindung zum behinderten Körper" haben sollte, dann könnte und dann sollte Kunst den Weg weisen in eine Gesellschaft, die auf Einschluss statt Ausschluss, auf Zugänglichkeit statt auf Barrieren beruht. Eine solchermaßen verstandene Kunst ist hochpolitisch, insofern sie das gleichberechtigte Bleiberecht aller Behinderung im Reich der Schönheit anerkennt.

"Krüppel" sprechen für sich selbst

Für eine Gesellschaft ohne jedwede Barrieren stritt auch die "Krüppelbewegung". Der kaum noch gebräuchliche Begriff hatte in den siebziger und achtziger Jahren gewaltige Sprengkraft. Er war ein Aufschrei, ein Ruf nach Teilhabe ohne Bevormundung, nach Selbstbestimmung ohne gutmenschelnde Stellvertretung. Behinderte wollten nicht länger betreut und also entmündigt werden. "Krüppel" sprechen für sich selbst, handeln für sich selbst, werden zornig und unleidlich ausschließlich in eigenem Namen. Ein frühes Publikations- und Identifikationsorgan war die bisher weitgehend unerforschte Krüppelzeitung, die von 1979 bis 1985 insgesamt vierzehnmal erschien. Eine Pioniertat sind die Anläufe zu einer Historiographie, an der sich der Autor Christian Mürner und das ehemalige Redaktionsmitglied Udo Sierck versucht haben. Ihrer beider Werk empfiehlt sich als erhellende, da emphatische Parallellektüre zu Siebers' politischer Semiotik.

Die in Bremen verlegte Krüppelzeitung war ein reines Selbsthilfeprojekt. Nicht-Behinderten blieb die Mitwirkung versagt. Geboren aus dem Geist von Achtundsechzig, war der runde Tisch, war der herrschaftsfreie Diskurs das Ideal, das sich nicht durchhalten ließ. Vom "sektiererischen Charakter" spricht rückblickend ein ehemaliger Redakteur. Häuptlinge kristallisierten sich heraus und Indianer. Zum Zentralgestirn der Bewegung stieg Franz Christoph auf. Bundesweite Berühmtheit erlangte der Aktivist, der an den Folgen einer Kinderlähmung litt, als er im Juni 1981 mit seiner Krücke Bundespräsident Karl Carstens ans Bein schlug. Er wollte aufbegehren gegen das "erstickende Dankbarkeitsklima" im von der Krüppelzeitung komplett abgelehnten "Jahr der Behinderung" 1981. Eine Karikatur aus demselben Anlass war überschrieben mit "Jedem Krüppel seinen Knüppel".

Verachtendes Denken begann nicht erst 1933

Die öffentliche Provokation blieb Christophs Domäne. Er konnte, erinnert sich Sierck, als Einziger "ein bisschen losgelöst auf die Tonne hauen". Die Regel, deren Ausnahme Christoph hieß, bestand im Nebeneinander von sozialpolitischer Debatte und Impressionen aus dem imperfekten Leben. Die Krüppelzeitung bot "Heiminsassen" ein Forum. Die "Kette der lebensbegleitenden Institutionen der Aussonderung" sollte durchbrochen werden, indem man sie öffentlich machte. Dazu rechneten auch die Werkstätten, deren Abschaffung das Ziel war. Illusionär, heißt es nun, sei diese Forderung gewesen.

Zu den Konstanten zählt die scharfe Kritik an Eugenik und Euthanasie. Bis heute stemmen sich Behindertenverbände gegen Bestrebungen, aktive Sterbehilfe oder vorgeburtliche Embryonenselektion zuzulassen. In den frühen achtziger Jahren kommentierte die Krüppelzeitung, die "Tötung eines Neugeborenen ist für uns weder von der Art noch von der Schwere der 'Behinderung' abhängig." Ein Münchner Arzt stand wegen eines solchen Vergehens vor Gericht. Sierck selbst sah im "verachtenden Denken über Krüppel" eine Kontinuität, die vor 1933 begonnen und nach 1933 nicht aufgehört habe. Auch im Skandal um eine Hamburger Humangenetikerin, die mehrfach zur Zwangssterilisation muskelkranker Mädchen geraten hatte, wählte man deutliche Worte. Der "Supermensch" werde offenbar gesucht, leistungsfähig und funktionstüchtig, während die "verkrüppelten Menschen" gar nicht erst entstehen sollten. Die humangenetischen Beratungsstellen führten die "Eheberatung der NS-Gesundheitsführung" fort.

Siebers wendet sich ebenso klar gegen die "perfekte Gesellschaft". Er misstraut jenen Körperbildern, die "bürgerliche Schönheit, politischer Konsens, gesellschaftliche Harmonie und Wirtschaftskraft" einseitig provozierten. Er spricht von den Fetischen "Mode, uniforme Schönheit, Gesundheit und Hygiene". Auch Siebers ortet eine "unheilige Allianz der Kunst mit der Eugenik", sobald jene wie diese starke Schöne, schöne Starke hervorbringen wolle. Dass auf den behinderten Menschen mit "Unbehagen, Verwirrung und Ressentiments" reagiert werde und er im Staatskörper deshalb unerwünscht sei, weil alle Normalisierungsbemühung an ihm abpralle, hätte auch die Krüppelzeitung schreiben können.

Schiefe Pfade für schiefe Leute

Nur Siebers aber erweitert den Befund auf den gebauten Körper, auf die sogenannte behindertengerechte Architektur. An vielen Beispielen belegt er deren Tendenz zu "Phobie, Hemmung und Diskriminierung." Rollstuhlrampen würden rasch unpassierbar, Behindertenparkplätze verwandelten sich in Abfall- und Abstellplätze, Bauten für Seh- oder Gehbehinderte gehorchten dem Prinzip "schiefe Pfade für schiefe Leute", seien verwinkelt, düster, unbenutzbar. Was schmerzt, was beunruhigt, werde instinktiv abgewehrt.

Vermag Kunst dem abzuhelfen? Siebers erwähnt mehrfach die Venus von Milo, deren Armstümpfe ihren herausragenden Rang als Kunstwerk bis in die Moderne sicherten, und die in der Renaissance beginnende Wertschätzung fragmentarischer Statuen. Die antiidealistische Volte, der Protest gegen Kant, Baumgarten und Winckelmann, überzeugt jedoch erst bei der Gegenwartskunst. In den Fokus rücken die jungen Briten um Damien Hirst, Marc Quinn und Paul McCarthy. Dessen Schauspiele etwa mit Blut, Wurst und Körpersäften, die bewussten Eingriffe am eigenen Leib erscheinen als Flaschenpost aus einer Zukunft, in der die Gesellschaft keine Reservate mehr errichtet für die Abweichenden. Die skandalisierte Ausstellung "Sensations" von 1999 mit ihren versehrten Körpern gerät Siebers zum Imaginarium einer "neuen demokratischen Gemeinschaft". Die Entgrenzung solch radikaler Körperkunst ins Leben ist die Realutopie, die Ereignis war.

Vieles lässt sich einwenden. Natürlich gibt es auch heute Kunst, die der klassischen Proportionalität treu bleibt. Natürlich gibt es eine kategoriale Differenz zwischen dem notgedrungen und dem freiwillig beschädigten Körper, und natürlich fällt Siebers hinter das eigene Konzept zurück, wenn er den Idealismus destruieren will, aber am Zentralbegriff der Schönheit festhält. Doch er zeigt in zahlreichen überraschenden Anläufen, dass die Gesellschaft mit dem Menschen, der nicht funktioniert, noch immer nicht umzugehen weiß. Darum wird die Kunst der Abweichung politisch. Seine Quintessenz deckt sich durchaus mit den Erfahrungen der "Krüppelbewegung": Wo das Gesunde verherrlicht wird, verroht der Mensch.

CHRISTIAN MÜRNER und UDO SIERCK: Krüppelzeitung. Brisanz der Behindertenbewegung. Verlag AG SPAK Bücher, Neu-Ulm 2009. 192 Seiten, 16 Euro.

TOBIN SIEBERS: Zerbrochene Schönheit. Essays über Kunst, Ästhetik und Behinderung. Aus dem Englischen von Andrea Stumpf und Gabriele Werbeck. Transcript Verlag, Bielefeld 2009. 130 Seiten, 17,80 Euro.

© SZ vom 11.8.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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