Süddeutsche Zeitung

Bücher:Heilige Unordnung

Lesezeit: 4 min

Das Sortieren der Bücherregale ist eine Aufgabe, in der sich das Leben spiegelt - und in der sich die eigene Person erkennen lässt.

Kolumne von Carolin Emcke

Nun nahen die ruhigen, besinnlichen Tage, und wenn es draußen kalt und dunkel ist, mögen sich manche fragen, was in den eigenen vier Wänden anzugehen wäre, was das ganze Jahr (oder vielleicht auch all die vergangenen Jahre) schon als Aufgabe drängte, für das aber nie genügend Zeit und Muße vorhanden war. Nach und nach treffen bereits verdächtig rechteckige Weihnachtspäckchen ein, die selbst den Postboten anteilnehmend nervös machen angesichts der Frage, wo die alle unterkommen sollen. Für obsessiv bibliophile Menschen, für jene alte oder wenigstens altmodische Spezies, die noch reale Dinge besitzt, also materielle Objekte, die sich berühren (oder beschnuppern) lassen, die Schallplatten aus Vinyl oder eben papierene Bücher sammeln, erweist sich die Liebe zur Literatur oder Musik leider auch als eine räumliche Frage. Das mögen Jüngere, die nurmehr digital lesen oder hören, für eine lächerliche Schwäche der Vormoderne halten, aber: Diese unsere geliebten Dinge brauchen Platz, einen Ort, an dem sie aufbewahrt und, das wäre besonders günstig, potenziell auch wiedergefunden werden könnten. Nüchtern betrachtet, ließe sich das Ressourcenproblem der Bücherliebhaberinnen meiner Generation auf die Formel bringen: Mit steigendem (Lese-)Alter schrumpft der Wohnraum.

Sind die Regalwände erst einmal voll, entstehen dynamische Biotope aus Büchern, sie bilden niedrige oder hohe Hügel, lang gestreckte Bergketten, mit tiefer liegenden Tälern, die eine thematische Unterbrechung markieren sollten, sie überziehen ganze Flächen wie Seenlandschaften oder bilden Inseln. Es sind gelesene Bücher, aus denen weiße Karteikarten hervorlugen, oder knittrige Papierstapel mit handschriftlichen Notizen, oder ungelesene Bücher. Sie liegen auf Tischen oder Hockern, auf dem Boden oder auf Balken, ganz selten liegen sie da, wo sie hingehören: auf dem Schreibtisch. Und das sind nur die frei beweglichen Bücher. Die anderen stehen, eng aneinander gepresst, in den Bücherregalen, die aber längst schon keine neuen Exemplare mehr aufnehmen können.

Wer sich in diesen Zeilen wiedererkennt, mag nun vielleicht erwägen, zwischen den Jahren neue Regale anzubauen oder neue Böden einzuziehen, idealerweise dabei einige absolut unleserliche oder geschmacklose Schinken zu entsorgen und dann mit Lust die ganze Bibliothek, inklusive all der herumliegenden Stapel, Haufen, Straßen erneut zu ordnen. Es ist auch eine verführerische Fantasie: sich endlich wieder eine systematisierte Bücherwand vorzustellen, eine übersichtliche Wohnung und Bewegungsfreiheit für den Staubsauger, der nicht mehr um den Hindernisparcours herumzirkeln muss. Mein Rat: Tun Sie's nicht.

Vor einigen Wochen habe ich es versucht. Der Plan war, erst die Bücher, die wirklich absolut verzichtbar sind, zu entsorgen, dann die vorhandenen Regale alle zu leeren, mindestens einen, wenn nicht zwei Böden pro Regal zusätzlich einzuziehen, und dann alle Bücher, auch die, die bislang auf dem Boden herumschwirrten, methodisch mit den anderen wieder zu einer kompletten Bibliothek zu vereinen. Das erste Problem war hermeneutisch: Was, wirklich, bedeutet schon "verzichtbar"? Ungelesene Bücher können schon einmal per se nicht verzichtbar sein, weil sich nicht beurteilen lässt, wie existenziell ihre Lektüre noch sein könnte.

Bei jedem gelesenen Buch wiederum waren glückliche oder bittere Erinnerungen an die Zeit der Lektüre gekoppelt und belegten jedes Buch so mit tagebuchhaftem Wert, der unabhängig oder jenseits des Gebrauchswerts kostbar wurde. Würde ich wirklich noch einmal Hans Werner Henzes "Reiselieder mit böhmischen Quinten" lesen, oder, in Wahrheit: zu Ende lesen? Sicherlich nicht. Aber als ich es jetzt, beim Ausräumen des Regals, wieder in die Hände nahm, stiegen die Bilder von dem Tag wieder in mir auf, an dem ich es abgebrochen hatte: an jenem Septembermorgen in New York im Jahr 2001, als ich in Downtown Manhattan Urlaub machte. Es steckt noch ein gelber Post-it an der Stelle, an der ich nicht weiterkonnte.

Ursprünglich gab es ein System: die gesamte Literatur, länder- oder sprachenübergreifend, alphabetisch sortiert, die Philosophie chronologisch, und die Sachbücher der Gegenwart thematisch. Das war recht vernünftig, auch wenn es einzelne Autoren oder Autorinnen immer schwer hatten, in Blöcke sortiert zu werden, weil sie entweder zu vielschichtig waren oder manche Themen es nicht einmal zu einem richtigen Block brachten. Das System selbst sollte nun nach der Montage zusätzlicher Regalböden intakt bleiben. Dachte ich. Zunächst lief alles gut: Ich hatte alle Regale, Reihe für Reihe, Buchstabe für Buchstabe, leer geräumt und auf dem Boden verteilt, die Böden abmontiert und dann mit geringerem Abstand zueinander plus zwei zusätzliche wieder eingebaut - um festzustellen, dass höhere Bücher nicht in die engeren Räume passten. Bolaños kompaktes "2666" ist nun einmal leichter neben dem ebenfalls hohen "Paradise" von Toni Morrison zu platzieren als neben den handlichen Erzählungen von Borges. Besonders peinlich: Manche Regalreihen sind jetzt derart niedrig, dass ich höhere Bücher gleich gar nicht mehr herausnehmen kann.

Es gibt sicherlich viele Aufgaben, in denen sich das eigene Leben spiegeln und die eigene Person erkennen lässt, aber das Sortieren der eigenen Bücherregale konfrontiert einen nicht nur mit der eigenen Geschichte und den Texten, die dabei existenziell waren, sondern auch mit dem, was es immer noch, jeden Tag, braucht wie Brot. Am Ende nämlich habe ich mich gefragt, welche Denkerinnen mir immer wieder Struktur geben, welche Autoren mich immer noch erschüttern, welche Werke ich fürs Schreiben zu Rate ziehe, welche zum Verstehen der Gegenwart, welche mir Trost spenden - und so habe ich nun die Bücher danach sortiert, wie nah mir ihre Sprache, wie unverzichtbar ihre Theorie ist, wie verzaubernd ihre Erzählungen sind. Sie stehen jetzt in Griffhöhe und bilden die wunderbarsten Verwandtschaften: Jean Améry neben Hannah Arendt, Sigmund Freud neben Walter Benjamin, die Lyrik hat ebenso ein eigenes Regal wie die Religion, auch wenn das kein eigenes Genre ist. Oder vielleicht doch.

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Quelle:
SZ vom 20.12.2019
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