Süddeutsche Zeitung

Bücher frecher Frauen:Die haben Nerven

Drogen, Sex und Lebensgier: Die Mädchen und Damen dieses Bücherfrühlings zeigen sich hocherregt. Ein Überlick.

Ina Hartwig

"Was bringt mir das College schon?" notiert Susan Sontag am 25. Mai 1949 in ihr Tagebuch. Sie ist 16 Jahre alt, liest gerade Dante, Goethe und Thomas Mann und meint: "Ich kann dort nichts lernen, denn das, was ich wissen will, kann ich auch allein zusammentragen, wie ich es vorher bereits getan habe, und der Rest ist nichts als stumpfsinnige Schinderei." Das soeben auf Deutsch herausgekommene Tagebuch der jungen Susan Sontag liest sich aufregend freimütig und ist so stolz wie zweifelnd und suchend.

Berkeley, University of California: Susan, glücklich einer schwierigen Mutterbeziehung entkommen, macht ihre ersten lesbischen Erfahrungen - "Sex mit Musik! Wie intellektuell!!" -, sie besucht Gay-Clubs in San Fransisco, raucht Marihuana, hat "Schuldgefühle" wegen ihrer eindeutigen Neigung, erleidet einen "Nervenzusammenbruch" und schreibt ein paar Tage später: "Ich möchte lieber einen Schritt zu weit in Richtung Gewalt und Exzess gehen, als den Moment nicht voll auszuschöpfen . . . ".

Diese Lebensgier ist ein Topos fern jeglicher Emanzipationsideologie, und wie Susan Sontags frühes Tagebuch jetzt zeigt, hat die 18-jährige Helene Hegemann mit ihrem Roman "Axolotl Roadkill" im heutigen Berlin keineswegs ein neues Sentiment dazuerfunden. Jungsein, Schulablehnung, Ranküne, Radikalität des Gefühls, Sex, Drogen, Härte bis zur Gewalt: Das ist nichts für brave Mädchen, doch die wilden Mädchen wollen es so. Sie wollen auf der Höhe ihrer Erregungszustände leben.

Lesen Sie weiter auf Seite 2, wo bei aller Erregung die Unterschiede sind.

Die Unterschiede der Stilisierung sind hingegen verblüffend. Nicht nur, dass Helene Hegemann, das Mädchen mit der Janis-Joplin-Schnute, von ihrem Vater die Lesehappen komfortabel-verschwörerisch hingeworfen bekommt, während Susan Sontag 60 Jahre zuvor auf der anderen Seite des Globus die beengenden jüdischen Familienverhältnisse flieht, wo man ihre Vielleserei beargwöhnt.

Sontag bekennt sich flammend zum Denken. Die schillernde künftige intellektuelle Diva Nordamerikas ist eine Süchtige des Verstehens. Die Kombination aus Bildungselite und weiblicher (Selbst-)Aggression feiert im erstaunlichen Phänomen Helene Hegemann gewissermaßen ihr entpolitisiertes Nachspiel als überlegenes Theatergelächter, bei nicht ganz geklärter Autorschaft: Daher die breite Abwehr der Zumutung von "Echtheit" aus Hegemanns Umfeld.

Das war einmal anders, wie die vor wenigen Monaten unter dem Titel "Notstandsgesetze von Deiner Hand" erschienenen Briefe Gudrun Ensslins an Bernward Vesper von 1968/69 aus dem Gefängnis beeindruckend belegen: Hier steht Echtheit für die Intensität des Empfindens, und natürlich für die politische Tat.

Die Pfarrerstochter, Stipendiatin der Deutschen Studienstiftung und werdende RAF-Terroristin, verzehrt sich in der Preungesheimer Zelle, wo sie wegen der Frankfurter Kaufhausbrandstiftung einsitzt, nach ihrem Geliebten Andreas Baader. (Der Brief an ihn ist dem Band im Anhang beigegeben.)

Die erotisch aufgemischte Lebensgier der jungen, hochbegabten Frau zeigt sich literarisch ambitioniert, wenn sie im August 1968 an Baader schreibt: "jeden morgen neblige Hochzeit mit der lüsternen Hoffnung, WIR, unter meiner Zunge barbarische Schwüre, ein rasselndes, raues Ah, ein hartgesottenes, voller Verachtung für alle Hindernisse, schick' ich zum Horizont, sehr weit weg ist er, aber aber (sic) das macht nichts. Weil es eigentlich sehr dunkel in mir aussieht, macht es mir fast Spaß."

Die Büchersaison beschert uns eine erhebliche Unruhe in der Damen- und Mädchenwelt. Hochbegabt und ehrgeizig sind sie alle, auch unsere jüngste Punk-Bohème mit dem glitschigen Lurch in der Plastiktüte. Und: Sie haben stark reagierende Nerven. Die Selbstdarstellungen Sontags und Ensslins, die uns postum erreichen, gehören zum Interessantesten, das man seit langem lesen konnte.

Sie sind Zeugnis eines Zeitgeistes, der einen Sog in die Zukunft erzeugt. Hier waltet eine faszinierende Kraft, die auffällig kontrastiert mit den elegischen, coolen Deko-Lebensversionen vieler schreibender Frauen der letzten Jahre.

Lesen Sie weiter auf Seite 3, was echt und was unecht ist.

Dunkel ist's auch im Innern des Fräuleins Maria Theresia Paradis, genannt Resi: Sie ist blind - und genial. So geschwind wie sie habe seit dem kleinen Mozart keiner Klavier gespielt. Der ehrgeizige Vater, ein Ekelpaket, will, dass die im Alter von drei Jahren Erblindete wieder sehend werde. Das klavierspielende und komponierende Wunderkind des 18. Jahrhunderts ist als die berühmteste Patientin des berüchtigten Arztes und Magnetiseurs Franz Anton Mesmer in die Geschichte eingegangen, und die Schriftstellerin Alissa Walser erklärt sie zur Heldin ihres vielgelobten Romans "Im Anfang war die Nacht Musik".

Wien, im Jahre 1777: Mesmer ist die letzte Hoffnung des Hofsekretärs von Paradis. Der Arzt wird gerufen, das 17-jährige Mädchen ihm vorgeführt: Riesenperücke, der Leib eingeschnürt von Korsetts, die Augen geschlossen, der Mund verstummt. Ein grandioses Nervenbündel hat Alissa Walser geschaffen. Als Resi die Augen öffnet, "gerät alles in Aufruhr, zuckt, vibriert nach einem eigenen, vom Ganzen unabhängigen System. Chaotisch und unkoordiniert wie ein irre gewordener Automat". Traurig, genial, verschnürt von Konvention und Drill: Was Alissa Walser interessiert, ist das Potential ihrer Befreiung.

Zwar wird Resi in Mesmers Hospital nicht geheilt, die Therapie gilt als gescheitert und zwingt den endgültig Rufgeschädigten in die Emigration, und dennoch - darauf kommt es an - erweckt der Doktor dank seiner Einfühlung und begnadeten Hände ihren Leib und ihre Seele zum Leben. Er bringt ihre Adern zum Glühen; das Fräulein öffnet sich Mesmer, vertraut ihm. Die üble Nachrede, da sei mehr im Spiel als erlaubt zwischen Arzt und Patientin, bleibt nicht aus: Missbrauchsvorwürfe avant la lettre. Allerdings steht Alissa Walser definitiv auf der Seite des Experiments und der Annäherung.

Mit dem pädagogischen Eros hat die junge Susan Sontag ebenfalls ihre Erfahrung gemacht, indem sie 17-jährig ihren Professor, Philip Rieff, heiratet. Mit 19 bekommt sie ein Kind, David (er ist nun der Herausgeber der Tagebücher), mit 23 notiert sie: "Wer immer die Ehe erfunden hat, war ein genialer Folterer." Die Scheidung ist unvermeidlich, und Susan Sontag nimmt wie im Rausch ihr Vorleben wieder auf. "Jetzt muss ich anfangen, meinen Verstand wieder aufs Spiel zu setzen, meine Nerven freizulegen."

Die Nerven freilegen - das bedeutet: den Körper entdecken. Das ist nicht so einfach. Sie ist in dieser Hinsicht nicht sehr selbstbewusst, scheint eine Neigung zur Verkapselung zu haben: Jeden Tag zu baden, alle zehn Tage die Haare zu waschen nimmt sie sich vor wie eine diffizile Tugend. Ihre Liebhaberinnen, meint sie, mache sie nicht glücklich, sie fühlt sich unterlegen, wenngleich sie die "unerlaubten Liebesbeziehungen als die vollkommensten" preist. Schrecklich eifersüchtig ist sie und leidet an der Trennung von Körper und Geist, deren Überwindung sie inniglich wünscht.

Ist der Mechanismus gestört, liest sich das nicht ohne Selbstironie. In Griechenland, auf Reisen mit ihrer Freundin Irene Anfang der 1960er Jahre, notiert die nunmehr 28-jährige Susan Sontag: "Heute Abend (als sie am Hafen war) habe ich eine Stunde damit verbracht, zu masturbieren + mit einem Spiegel meine Möse zu betrachten. Als sie zurückkam, habe ich es ihr erzählt. ,Und, hast du irgendwas entdeckt?', hat sie gefragt. ,Nein', habe ich geantwortet."

Wie anders die französisch-katholische Tradition mit dem weiblichen Eros verfährt, nämlich idealisierend, lässt sich glänzend anhand von Catherine Millets Buch "Eifersucht" studieren, das soeben im Hanser Verlag auf Deutsch erschienen ist. Bekannt wurde die 1948 bei Paris geborene Autorin über ihre Profession als Kunstkritikerin hinaus durch ihr 2001 erschienenes, weltweit millionenfach verkauftes Buch "Das sexuelle Leben der Catherine M.".

Darin berichtet sie im Duktus eines weiblichen Don Juan über ihr ausschweifendes Vorleben im Geist einer der Befreiung geweihten Zeit. Angeblich handelt es sich um die sexuelle Biographie der Autorin, woran jedoch schon Zweifel laut geworden sind. Einige meinen, der Ehemann, der Schriftsteller Jacques Henric, sei hier doch wohl eher als Mitspieler denn als Betrogener zu begreifen.

Ob Kalkül oder nicht: Der zweite Teil, "Eifersucht", handelt von der dunklen Seite außerehelicher Affären. Denn wie Catherine M. eines Tages bemerkt, betrügt auch der Ehemann sie. Die zufällig entdeckte Fotografie einer nackten Schwangeren, das Selbstporträt einer seiner Geliebten, löst die langanhaltende Eifersuchtskrise aus.

Dabei - und das ist so ungemein französisch - wird die Eifersucht selbst bis an die Grenze der Komik theoretisiert: "Ich dosierte das Leiden, das ich mir antat, genauso wie die Anhänger des Sadomasochismus, die, um ihren weiteren Lustgewinn nicht zu gefährden, nur bis an die Schwelle dessen gehen, was die Körper ertragen können, ohne zusammenzubrechen."

Wie sollte Susan Sontag so treffend formulieren in ihrem berühmten Aufsatz über die pornographische Phantasie (veröffentlicht in jenem Band, der ihren Ruhm begründete, "Kunst und Antikunst" von 1966): "In Wahrheit ist die Eindeutigkeit der Intention in der Pornographie unecht. Nicht hingegen die Aggressivität, die in dieser Intention zum Ausdruck kommt."

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Quelle:
SZ vom 20.3.2010/rus
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