Süddeutsche Zeitung

Buchempfehlung "Der Krieg der Armen":Unter riesigen Wolkenmassen

Zwei Jahrhunderte, drei Schauplätze, hundert Seiten: Eric Vuillard erzählt in seinem neuen Kurzroman von Thomas Müntzer und dem "Krieg der Armen".

Von Gustav Seibt

Nun also Thomas Müntzer und der Bauernkrieg, dazu die Vorläufer John Wyclif (1330 bis 1384) und Jan Hus (1370 bis 1415): Im fünften seiner historischen Kurzromane greift Éric Vuillard ins späte Mittelalter zurück und gelangt bis an die Schwelle der Neuzeit. Der Prediger und Ketzer Thomas Müntzer wurde nach der vernichtenden Niederlage der deutschen Bauern bei Frankenhausen in Thüringen enthauptet, am 27. Mai 1525. Er war damals 36 Jahre alt.

Knapp zwei Jahrhunderte mit drei Schauplätzen - England, Böhmen und Mitteldeutschland - umspannt "Der Krieg der Armen". Sein Buch hat knapp einhundert Seiten. Damit überbietet Vuillard das Verhältnis von Textmenge und dargestellter Zeit noch ein weiteres Mal. Seine bisherigen Geschichtserzählungen galten unter anderen dem Ersten Weltkrieg (vier Jahre), dem Anschluss Österreichs an Deutschland mit seiner Vorgeschichte (fünf Jahre) und der Erstürmung der Bastille am 14. Juli 1789 (ein Tag mit einer Vorgeschichte von mehreren Monaten). Und immer bewegte sich das Format in Novellenlänge, nicht mehr als 150 Seiten.

Diese Bücher liest man in zwei bis drei Stunden, die erzählte Zeit ist im Vergleich dazu riesenhaft. Das ist erstaunlich, fast wunderbar, vor allem weil Vuillards Texte ihre Leser immer wieder mit der Suggestion von Gegenwärtigkeit, Nahsicht, sogar Augenzeugenschaft fesseln.

Ein Steuereintreiber löst im mittelalterlichen England einen Aufstand aus, weil er eine Bauerntochter vergewaltigt hat. Vuillard erzählt das klassisch-szenisch: "Er verlangt die Steuer, aber das junge Mädchen kann nicht zahlen, sie haben kaum genug zum Leben. Da reißt der Einnehmer ihr das Kleid vom Leib, wirft sie auf einen Strohsack und bezahlt sich selbst. Sie ist fünfzehn. Sie ist hübsch. Sie ist der Wert schlechthin. Doch die Sprösslinge der Armen sind nichts wert. Ihre Lippen sind jetzt blau, sie friert; sie stolpert über den mit Brombeerhecken gesäumten kleinen Weg; von Weitem sieht der Vater sie. Riesige Wolkenmassen streifen die Wipfel der Bäume."

Der Zeitrhythmus gleicht einem immer neuen blitzartigen Heranzoomen

Das Kürzeste darin ist die sozialhistorische Information ("die Sprösslinge der Armen sind nichts wert"), genauso wichtig und eindrücklicher ist das Wetter, ein in diesem Zusammenhang ahistorischer Begleitumstand - "riesige Wolkenmassen" kann es in jeder Epoche geben. Auch das Bühnenbild der Szene - Strohsack, Brombeerhecken - erzeugt nur einen vagen Eindruck von Ländlichkeit, um mitzuteilen: Wir sind in der Vormoderne.

Die Szene wird im historischen Präsens erzählt wie fast das gesamte Buch. Sie ist bildhaft und nah, mühelos überspringt sie die 650 Jahre, die uns Leser von ihr trennen. Doch Vuillard kann nicht nur Szene, er kann auch Metapher und Allegorie, und auch diese haben die Kraft der Unmittelbarkeit. Solche Mittel erlauben es ihm, säkulare Großprozesse mit wenigen Sätzen in den Blick zu nehmen. So beschreibt er die Erfindung des Buchdrucks, die zentrale mediengeschichtliche Voraussetzung der Reformation und der Rolle von Thomas Müntzer als Publizist: "Fünfzig Jahre zuvor war eine glühende Masse ausgeflossen, von Mainz durch das ganze übrige Europa, war zwischen die Hügel jeder Stadt, zwischen die Buchstaben sämtlicher Namen geflossen, über die Regenrinnen, durch die Windungen jedes einzelnen Gedankens; und jeder Buchstabe, jeder Ideenzipfel, jedes Satzzeichen war in ein Stück Metall eingegangen. Man verteilte sie in einer Holzschublade. Die Hände wählten eines aus, und noch eins, und so entstanden Wörter, Zeilen und Seiten. Sie wurden in Tinte getaucht, und eine ungeheuerliche Kraft presste die Lettern langsam auf das Papier."

Das ist großartig, weil es die unerhörte Neuartigkeit der Drucktechnik fühlbar macht, die kommunikative Gewalt, die von ihr ausging. Bücher, die bisher in mühsamer Handarbeit abgeschrieben werden mussten, entstehen durch bewegliche Lettern und Druckstöcke mit fabrikartiger Geschwindigkeit: "Das wurde dutzende und aberdutzende Male wiederholt, bis die Blätter viermal, achtmal oder sechzehnmal gefaltet wurden. Sie wurden in die richtige Reihenfolge gebracht, zusammengeklebt, genäht und in Leder gebunden. Daraus wurde ein Buch. Die Bibel. Innerhalb von drei Jahren entstanden so einhundertundachtzig davon, während ein Mönch in derselben Zeit nur eine einzige abgeschrieben hätte. Und die Bücher vermehrten sich wie Würmer in einem Körper."

Erlebte Rede, wörtliche Zitate, Landschaftsbilder, immer wieder Meteorologie und Metaphern, das sind Vuillards Mittel, die trotz der Abstraktion erfordernden Kürze seiner Texte den Eindruck von leiblicher Nähe erzeugen. Der Zeitrhythmus dieser Erzählform gleicht einem immer neuen blitzartigen Heranzoomen.

Woher kennt man eigentlich diese Bilderfülle, die Überwältigungsästhetik?

Die meisten historischen Romane sind enorm umfangreich, sie gefallen sich im Auspinseln von Umständen und Szenerien. Es gibt kaum ein erzählerisches Genre, das traditionell so viele Beschreibungen mit sich schleppt, schließlich muss eine ganze versunkene Welt auf die Bühne gehoben werden. Auch erzählerische Historie verfährt nicht wesentlich anders, sie erhebt nur den Anspruch, kein einziges Anschauungsdetail, das sie aus der Flut der Quellen schöpft, zu erfinden. Gelegentlich nimmt sich der Erzähler Zeit zu Zwischenbemerkungen und kleinen Leseranreden, einer Art Durchatmen in der bedrängenden Fülle von Bildern.

Nur, woher kennt man das, diese Bilderfülle, die Überwältigungsästhetik auf engem Raum? Der deutschsprachige Leser darf hier, erst zögernd, dann mit heiterer Entschiedenheit den Namen Stefan Zweig aussprechen. Sternstunden der Menschheit! Die historischen Miniaturen, die Zweig unter diesem Titel gesammelt hat - es wurde sein erfolgreichstes Buch überhaupt -, sind sogar noch kürzer als Vuillards Kleinromane.

"Am 5. September 1823 rollt ein Reisewagen langsam die Landstraße von Karlsbad gegen Eger zu: der Morgen schauert schon herbstlich kühl, scharfer Wind geht durch die abgeernteten Felder, aber blau spannt sich der Himmel über der geweiteten Landschaft. In der Kalesche sitzen drei Männer, der großherzoglich sachsen-weimarische Geheimrat v. Goethe (wie ihn die Kurliste in Karlsbad rühmend verzeichnet) und die beiden Getreuen (...)." Stefan Zweig verwendet bis zur Lachhaftigkeit übereinstimmend jene erzählerischen Mittel, die auch Éric Vuillard mobilisiert: Wetterkulissen, Szene, erlebte Rede, Metapher und Allegorie. Man hat es offenbar mit Universalien vergegenwärtigenden historischen Erzählens zu tun, überall anwendbar, womöglich in Schreibkursen lehrbar.

Zweigs Stil ist im Duktus ein wenig altmodischer, die Sätze weniger parataktisch reihend, weniger hämmernd als die Vuillards; das ändert aber nichts an der grundlegenden Übereinstimmung bei den Veranschaulichungsmitteln, vor allem nicht am Überwiegen der Anschauung über die Reflexion im Erzählen der beiden sonst so weit voneinander entfernten Autoren.

Zur Sache von Vuillards neuem Buch wäre noch anzufügen, dass sein Müntzer-Bild der marxistischen Tradition entstammt, die Hauptautoritäten sind unübersehbar Friedrich Engels und Ernst Bloch. Mit heutiger historischer Wissenschaft hat das nichts zu tun. So scheint er zu glauben, dass die spätmittelalterliche Armutsbewegung ein Produkt des "Volks" war - in Wahrheit entstammte sie den Bettelorden, und damit immer noch der minoritären gelehrten Schriftkultur. Aber wer will mit einem historischen Bildersaal positivistisch rechten? Éric Vuillard produziert handwerklich perfekt gestaltete Plakatwände, nicht mehr, nicht weniger.

Éric Vuillard: Der Krieg der Armen. Roman. Aus dem Französischen von Nicola Denis. Matthes & Seitz, Berlin 2020. 100 Seiten, 16 Euro.

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SZ vom 18.03.2020
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