Buchmessen-Rundgang:Die wahren Begegnungen

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Hinter den Spiegeln: Ein Rundgang mit Lutz Seiler, der fast den Buchpreis bekommen hätte, über die andere Seite der Leipziger Buchmesse.

Christopher Schmidt

Leipzig hat nicht nur sein Gewandhaus und sein Völkerschlachtdenkmal - es hat auch seine Unorte. Die Straßenbahnlinie 16 hält auf halber Strecke zum Messegelände an der Haltestelle "Hornbach Baumarkt". Der Heimwerkermarkt ist die einzige Landmarke hier in der Vorstadt, und wenn die Streckenführung der Trambahn ein historischer Zeitstrahl wäre, dann hätten wir wohl jetzt gerade die Wende passiert, die Jahre der allgemeinen Obifizierung, als bei Hornbach der Do-It-Yorself-Kapitalismus die Grenze nach Osten überschritt.

Weiter draußen auf unserer Reise in die Gegenwart ist es nicht weniger surreal. Die Buchmesse ist ja auch eine Art Baumarkt mit ihren Produkt-Gassen, ihrem Spezialzubehör und ihren Warenpaletten. Und doch würde es uns nicht wundern, wenn die Endstation Lummerland hieße, märchenhaft sind die Kristallpaläste der Messe wie das versunkene Inselreich in "Jim Knopf".

Wobei man sich mit der insularen Lage nicht zufrieden gibt. Vor allem am Abend wird zum Landgang übergesetzt. Auf zahllosen Partys und Empfängen saugt sich der Buchmensch in der Innenstadt mit Leben voll, und die Frühlingsluft ist so nachtschwärmerisch lind, als wäre der Wettergott im Schriftstellerverband.

Da wackelt Günter Grass über den Augustusplatz, dort sitzt Dieter Moor beim Wein, Harald Martenstein hat sich schnell noch eine Süddeutsche gekauft, und die Lesung von Martin Suter beginnt mit einer Mikrofon-Panne. Ganz lustig, die Pantomime der scheiternden Sprechversuche und irgendwie wohltuend, weil man unwillkürlich denkt, es sollte viel mehr stumme Lesungen geben, als Ausgleich zum ubiquitären Stimmengewirr.

In den Hallen herrscht Marktschreierei und Verkaufsprosa, "world-wide-Klappentext", wie Nicholson Baker das nennt. Angesichts der Dauerbeschallung mit abgerundeten Werbeformeln, befällt einen die jähe Sehnsucht nach dem sorgfältigeren Umgang mit Adjektiven bei Lutz Seiler, mit dem wir hier verabredet sind.

Wenn wir ihn denn je finden im Labyrinth der Budengassen und Verbindungsröhren, zwischen all den tütenbepackten Schulklassen und Rollkofferkommandos, den Marketendern und Vereinsmeiern, Regalschreinern und Wahrsagerinnen, dem bunten Vogelschwarm, der sich auf dem Rücken des aus seinen Tiefen aufgetauchten Pottwals Literaturbetrieb niedergelassen hat, um das nährstoffreiche Plankton wegzupicken.

"Die Messe ist eine Parallelwelt auf Zeit", sagt Lutz Seiler, als wir ihn gefunden haben. Aber man könne sich dem ja auch verweigern und nur einsam vor sich hin schreiben. "Aber als ich zuhause aufgebrochen bin, habe ich noch mal ganz fest auf die Erde zwischen den Fichten geschaut und geschworen: Ich komme zurück".

Zuhause, das ist in Wilhelmshorst bei Berlin, wo der 1963 in Gera geborene Lutz Seiler lebt und das literarische Programm im Peter-Huchel-Haus leitet. Zum Glück hat auch die Messe ihre Rückzugsorte und Gegenwelten. Auf der Suche nach einem ruhigen Plätzchen, schlägt Seiler vor, einfach durch die Wand zu gehen, und schon ist dieser eher kleine und zierliche Mann tatsächlich wie Alice hinter den Spiegeln verschwunden. Als magische Schleuse dient ein fehlendes Wandelement im Kabuff hinterm Stand.

Dahinter liegt ein kleiner Innenhof, von mehreren Verlagen begehbar gemacht, deren Stände ein Karee bilden. "Hier finden die wahren Begegnungen statt", sagt Lutz Seiler und deutet auf gestapelte Buchkartons, Volvic-Träger und Zigarettenkippen, als wäre er ein König, der uns in seine Schatzkammer führt.

In der Tat fühlt man sich backstage wie im Auge des Orkans. Die vordere Front, die Fassadenseite gehört den jovialen Verlagsmenschen, den aparten Hostessen und der literarischen Publikumsbewirtung, die Rückseite aber der Auszeit, der schönen Verwilderung und dem Glück des gestohlenen Augenblicks.

Nein, den Preis der Leipziger Buchmesse, für den er nominiert war, hat Lutz Seiler am Ende nicht bekommen, obwohl man ihm den Preis genauso gewünscht hätte wie Georg Klein, der ihn schließlich verdientermaßen bekam.

Er habe sich vor der Bekanntgabe systematisch darauf konditioniert, nicht mit dem Preis zu rechnen, im entscheidenden Moment jedoch habe ihm sein Zweckpessimismus nicht geholfen. "Als der Umschlag geöffnet und der Name des Preisträgers verlesen wurde, war ich einen Moment lang fest davon überzeugt, dass ich Georg heiße."

Preise hat Lutz Seiler schon viele und wichtige gewonnen, unter anderem den Ingeborg-Bachmann-Preis für seine Erzählung "Turksib", die zusammen mit zwölf anderen in den Band "Die Zeitwaage" eingegangen ist, mit dem Seiler in Leipzig auf der Shortlist war.

Eine andere Nominierte, Helene Hegemann, war in Leipzig kaum Thema, sieht man einmal ab von der eher lauwarmen Apologetik der Juryvorsitzenden Verena Auffermann, dass Anfänger eben auch Fehler machen. Ein ständiges Thema in Leipzig war dagegen Schokolade. Allerorten klagen gestresste Verlagsbuchhändler über Unterzuckerung, rufen vielgefragte Autoren nach Nervennahrung, dezimieren abgekämpfte Journalisten per Rollgriff das Teegebäck.

Lutz Seiler schwärmt von Michael Krügers Schokolade, "nicht Rittersport, sondern so eine feine Verleger-Schokolade in blauem Papier". Buchmensch durch und durch, kümmert sich Krüger eben auch noch um den Stoffwechsel bei befreundeten Verlagen. Und abends liest er zusammen mit Josef Haslinger aus dem Briefwechsel zwischen Thomas Bernhard und seinem Verleger Siegfried Unseld - ein toller Besetzungscoup und umso hinreißender, weil ein großer deutscher Verleger einen anderen großen deutschen Verleger spielt und damit ein Buch aus dessen Verlag bewirbt.

Für Lutz Seiler ist die Leipziger Buchmesse schon deshalb ein besonderer Ort, weil er hier den Wechsel zu Suhrkamp schaffte. "Wir saßen auf einer dieser Eisenstange, als Thorsten Ahrend in seiner trockenen norddeutsche Art sagte, dass er das Buch machen will. Und ich konnte mein Glück nicht fassen." 2000 erschien "pech&schwefel", der Lyrikband, mit dem Lutz Seiler plötzlich in aller Munde war.

Seiler stammt aus kleinen Verhältnissen. Nach dem Abitur lernte er Baufacharbeiter, arbeitete als Maurer und Zimmermann. "Bücher entdeckte ich erst bei der NVA." Ausgerechnet der Wehrdienst hat aus Seiler einen Bibliomanen gemacht. Die Bücher bedeuteten eine "erweiterte Möglichkeitsform". Bei den nahen Leuna-Werken gab es eine kleine Leihbücherei und dort eine Kiste mit den Büchern, die aussortiert worden waren, weil sie zu selten ausgeliehen wurden, darunter eine Erstausgabe von 1949 mit Gedichten von Peter Huchel, heute eine bibliophile Kostbarkeit. "Das wurde mein Kanon", sagt Lutz Seiler.

Obwohl er die Welt der Bücher nicht nur als Lesender entdeckt hatte, sondern gleich auch als Schreibender, dauerte es noch zwölf Jahre, bis er zum ersten Mal ein Gedicht geschrieben hatte, von dem er dachte: "Das ist gut". Dass die geschulte Handwerklichkeit seiner schlackenlos dichten Texte typisch sei für ostdeutsche Schriftsteller, verneint er. Überhaupt stören ihn die immer wiederkehrenden Zuschreibungen, etwa dass in der DDR sozialisierte Autoren immer dunkel und schwer zu sein haben, "dabei lache ich oft laut beim Schreiben".

Acht von den dreizehn Geschichten der "Zeitwaage" handeln ohnehin von der Nach-Wende-Zeit, und die beiden Erzählungen, die in Amerika spielen, hat er programmatisch an den Anfang des Buches gestellt: "Ich wollte damit zeigen, das kann ich auch: Eine klassische Shortstory, in der sich ein Paar in der untergehenden Sonne Kaliforniens trennt."

Dabei ist DDR-Morbidezza sowieso nur noch hip. In der aufgelassenen Schalterhalle der alten Hauptpost haben die jungen Verlage zur Party geladen. Doch an diesem Abend ist der Retro-(Alb)Traum aus Terrazzo-Fliesen und Furnierholz - mit viel Gaffer-Tape, UV-Birnen und Klippan-Sofas clubfähig gemacht - eine Hochburg der schwarzen Hornbrillen. Kleine Bierflaschen wirken wie Mikrofone beim Karaoke des Branchen-Gossip, während sich auf der Tanzfläche einsame Eintänzer um sich selber drehen, wie dies die ganze Messe tut.

Überm Gespräch mit Lutz Seiler hatten sich die Hallen der Messe längst geleert, Lautsprecher-Durchsagen riefen die letzten Besucher zu den Ausgängen. Handgeschriebene Zettel mit Autoren und Titeln mussten trotzdem noch getauscht werden, bevor man wieder in die Oberwelt auftauchte. Die Partys können uns gestohlen bleiben. Dort aber, hinter die Spiegel, wollen wir wieder zurück, zu den Kisten und Kippen - und zu den Kassibern mit den Büchern, die der wahre Kanon sind.

© SZ vom 22.3.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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