Buchmesse:Russland - der unbezahlbare Skandal

Auch in diesem Herbst erfüllt es seine historische Rolle als Projektionsfläche für die transgressiven Fantasien des Westens: Russland ist der eigentliche Skandal.

Von Sonja Zekri

Ein unscheinbares Haus auf der Petrograder Seite Sankt Petersburgs. An der Tür hängt kein Firmenschild, im ersten Stock herrscht die Sterilität eines Krankenhausflures: Das ist der Verlag Amfora, und sein Chefredakteur ist Wadim Nasarow, ein massiger, fröhlicher Glatzkopf, der als Pionier des postsowjetischen Buchmarktes gilt.

Als Student gründete er in einem Keller im damaligen Leningrad den legendären Verlag Sewero Sapad, später folgte Asbuka und 1998 Amfora, einer von 245 russischen Verlagen, die zur morgen beginnenden Frankfurter Buchmesse anreisen.

"Das heutige Gesicht Petersburgs als intellektuelle Hauptstadt des Landes", schrieb eine Moskauer Zeitschrift, "wird vor allem von den literarischen Reihen gefördert, die bei Amfora erscheinen." "Borges persönliche Bibliothek" hat Nasarow sie genannt, "Herbarium" oder "Slawischer Kleiderschrank", und er bringt darin Haruki Murakami, Orhan Pamuk und Jeffrey Eugenides heraus, Stephen Hawkins, Michael Ende und viele Petersburger Autoren.

Noch nie wurde der russische Leser von einer solchen Fülle von Neuerscheinungen überrollt. Im letzten Jahr waren es 70 000 Titel - und doch wirkt dies dürftig im Vergleich zur Einwohnerzahl; von Startauflagen wie zu Sowjetzeiten kann gar nicht mehr die Rede sein.

Tausende Verlage haben in den letzten zehn Jahren die einst staatlich geregelte Buchproduktion erobert. Heute kämpfen sie um einen Markt, der zwar Konzentrationen wie im Westen nicht kennt, aber dafür jede Menge schmutziger Tricks. Unterschlagene Auflagen, um die Autoren um ihr Geld zu prellen, wie es Eksmo Press in Moskau vorgeworfen wird, doppelt verkaufte Lizenzen und aggressive Abwerbungen - alles dies zeugt davon, dass die Literatur von der postkommunistischen Ökonomie rückstandsfrei absorbiert wurde.

Märchen von Saddam Hussein

Auch der Pionier Nasarow, von dem es heißt, er habe in der Zeit der Hyperinflation Brodskij-Bände in Zügen in die ausgehungerte Provinz geschickt und Waggons voll Geld zurückbekommen, distanziert sich von seinen idealistischen Anfängen: "Wir waren ein sehr intellektueller Verlag, aber das hängt mir zum Hals raus."

Wie so viele Verleger spekuliert er auf die gigantische, in jeder Hinsicht unterversorgte Peripherie, wenn er nun "romantische Komödien" herausbringen will - Karen Duve zum Beispiel. "Menschen, die Handke lesen, wohnen in Petersburg und Moskau. Menschen, die Duve lesen, wohnen überall."

Doch Nasarow setzt nicht nur auf leichte Kost, sondern auch auf literarische Brocken, die westlichen Beobachtern im Halse stecken bleiben. So hat er die Werke des nationalbolschewistischen Krakeelers Eduard Limonow ebenso herausgebracht wie "Tschetschenskij Blues" von Alexander Prochanow, dem Herausgeber des bolschewistisch-nationalistischen Blattes Sawtra.

Beides verbucht Nasarow als kontrolliertes "Experiment", als Angebot an eine vielseitig interessierte Leserschaft. Sein jüngster Coup ist Saddam Husseins "Zabibah und der König", das er als Kommentar zum Irak-Krieg verstanden wissen will und das ihn auf der Moskauer Buchmesse in die Schlagzeilen brachte.

Nun ist der Skandal in der russischen Dichtung keine neue Erscheinung. Wenn der Krawall-Autor Bajan Schirjanow in einer Fernsehshow die Schuhe auszieht, dann spielt er damit auf Puschkin an, der im Theater auf die Knie fiel, um sich interessant zu machen.

Damals aber war der Skandal ein Versuch, dem Gefängnis einer kontrollierten Literatur zu entfliehen. Wenn aber die Putin-treue Jugend "Iduschije Wmestje", wie vor einigen Monaten, den Schriftsteller Vladimir Sorokin wegen vermeintlicher Pornografie vor Gericht zerrt, dann spiegelt sich darin ein Überdruss an den literarischen Zumutungen der Reform-Ära wieder, eine verbreitete Sehnsucht nach Ordnung und Größe.

Nasarows Flirt mit dem Oevre Saddams wiederum ist ebenso wie die Eskapaden von Sorokins Verleger Alexander Iwanow ("Ad Marginem"), der Prochanows Machwerk "Herr Hexogen" herausgebracht hat, ein kalkulierter Regelverstoß, den die Mainzer Literaturwissenschaftlerin Birgit Menzel in der Sonderausgabe der Zeitschrift Osteuropa/Neprikosnowennyj Sapas (September-Oktober 2003) als "modischen Extremismus" bezeichnet und als Versuch, die Auflage zu steigern.

Ist der Skandal nur eine Art Marketingstrategie? "In einem Land mit so eingeschränkten Werbemöglichkeiten", sagt Nasarow mit entwaffnender Offenheit, "ist er die einzige."

Etwa hundert neue Literaturpreise, ungezählte Rankings und Internet-Foren erreichen zahlreiche, aber nur winzige Ausschnitte des Publikums. Ihr Effekt auf die Auflage ist verschwindend, ihre symptomatische Bedeutung allerdings enorm. Sie künden von der Krise der Kritik - und von der Krise der Intelligenzija als erstem, wichtigsten und treuestem Publikum.

Traditionell boten die dicken Monatszeitschriften wie Nowyj Mir, Snamja oder Oktjabr jene Foren, auf denen sich die Literatur in Essays, Jahresrückblicken und Porträts als Welterklärungssystem entfalten konnte.

Inzwischen sind fast alle Journale eingegangen. "Heute ist Literatur eine Sache von Angebot und Nachfrage, der Intellektuelle wird nicht mehr geschätzt", sagt der Literaturkritiker Michail Berg, "damals aber war der Schriftsteller eine heilige Figur, Skandale wurden von ihm erwartet."

Ein letztes Mal beschwor die Szenezeitschrift Afischa jene zärtlich-verzweifelte Verehrung der Dichter, als Wiktor Pelewins neues Buch "DPP" erschien, doch die Hommage wirkte verspätet, fast wie ein Zitat.

Mit seinen Romanen "Buddhas kleiner Finger" und "Generation P" habe Pelewin die Funktion eines "Schamanen, eines Auguren, eines offiziellen Mediums mit dem Übernatürlichen" erfüllt, schrieb Lew Danilkin. Nun müsse PWO - Pelewin Wiktor Olegowitsch - erklären, "was im post-jelzinschen Russland geschehen ist, und, natürlich, who is Mr. Putin."

Die Geschichten voll asiatischer Mystik erfüllten die Erwartungen nicht. Es sei alles drin, so Danilkin enttäuscht, Oligarchen, Globalisierung, Putin, aber kaum Gefühl: Den neuen Pelewin beschäftige wohl mehr, "dass seine Puppen Geld bringen".

Ilja Stogoff, Jahrgang 1970, schreibt für ein Publikum, das sich um solche Erwartungen kaum noch schert. Ein Kritiker nannte ihn den "angesagtesten Schriftsteller Sankt Petersburgs", ein anderer einen "Frankenstein, der das kollektive Unterbewusstsein vergewaltigt". Beides sieht man ihm nicht an.

Stogoff, ein höflicher Ex-Theologiestudent, Journalist und gelegentlich Autor dieser Zeitung, trägt eine abgewetzte Lederjacke, einen kahlen Schädel und einen nüchternen Blick: "Alle wollen PR, aber keiner weiß, wie's geht."

Sein Buch "Machos weinen nicht" (Droemer) beschreibt wüste Sauftouren, die vom Unvermögen seiner Generation erzählen, in der neuen Zeit Fuß zu fassen, und sei, so Stogoff, am besten zu "The Fat of the Land" von Prodigy zu lesen.

Nicht um Russland zu erklären, schreiben junge Autoren wie Stogoff, Alexander Ikonnikow ("Liska und ihre Männer") oder Irina Denezkina ("Komm"), sondern um sich darin zurecht zu finden, im rasenden Wechsel der Marken, Moden und Systeme.

Ihre close-ups handeln von Alkohol und Gewalt, und ihr Fotorealismus wirkt auf den hiesigen Leser ein wenig befremdlich, ähnlich wie Sorokins Auslöschungsfantasie "Das Eis", Tatjana Tolstajas Endzeitparabel "Kys" oder andere Werke, die uns zur Buchmesse erreichen.

Auch in diesem Herbst erfüllt Russland seine historische Rolle als Projektionsfläche für die transgressiven Fantasien des Westens: Russland ist der eigentliche Skandal.

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