Süddeutsche Zeitung

Buchmesse:Nation und Imagination

Haitis Schriftsteller sind der Stolz der Inselrepublik, die von vielen Problemen geplagt wird. Ein Besuch bei Autoren, die radikale literarische Gegenwelten erschaffen.

Von Cornelius Wüllenkemper

Haiti ist ein Land, das in mancher Hinsicht nur als Traum und Vorstellung existiert. Es lebt von imaginären Welten, von den Geschichten, die seine Schriftsteller erzählen, von den alltäglichen Gerüchten und historischen Mythen, die hier ebenso tief im kollektiven Bewusstsein verankert sind wie die eigene Geschichte von der einzigen von Sklaven gegründeten Republik der Weltgeschichte.

Hinter von pittoresken Bougainvilleen umranktem Stacheldraht hat sich an diesem Abend auf einer Terrasse in einem der letzten vornehmen Viertel der Hauptstadt Port-au-Prince ein exklusiver Kreis von Intellektuellen des Landes zusammengefunden. Jean-Jacques Ronald, Vorsitzender der haitianischen Psychologen-Verbandes, berichtet mit einem Glas Barbancourt-Rum in der Hand und ohne die Spur eines Lächelns von einer mystischen Begebenheit: Acht Soldaten der seit 2004 im Land stationierten Stabilisierungsmission der Vereinten Nationen sollen während einer Fahrt durchs Hinterland ihre Fahrzeug verlassen haben, um in einem Feld auszutreten. Als sie nicht wieder auftauchten, habe man anstelle der Soldaten acht meckernde Zicklein entdeckt. Voodoo-Mystizismus? Radikale Fiktionalisierung der Realität? Es ist nur eine der unzähligen Geschichte, die von der Seele eines Landes erzählen, das ein lebendiges Oxymoron ist. Der US-amerikanische Romancier Herbert Gold sprach einmal vom "besten Albtraum der Welt."

Im Volksmund heißt es, man hat Glück, wenn man Pech haben müsste

"Um einen Haitianer am Träumen zu hindern, muss man ihn totschlagen", so drückte es unlängst Haitis prominentester Autor Dany Laferrière aus. Laferrière floh 1976 wie so viele Intellektuelle vor der Schreckensherrschaft der Duvalier-Diktatur. Acht Jahre lang verdingte er sich als Fabrikarbeiter in Montréal, bis er 1985 mit seinem skandalträchtigen Debütroman "Die Kunst, mit einem Neger zu schlafen, ohne müde zu werden" über Nacht zum Star wurde. Laferrière schreibt lustvoll über das Leben zwischen dem Radikalismus der Black Panther und dem Rassismus der weißen Oberschicht, über Jazz von Charlie Parker, Sex mit blonden Schönheiten und über den zwingenden Traum, Schriftsteller zu werden. Vierzig Jahre später erscheint der Titel jetzt in leicht entschärfter Übersetzung erneut. Über dreißig Romane hat Laferrière seither verfasst, 2013 ist er als erster Farbiger nach Léopold Senghor in die Académie Française berufen geworden. "Ich bin Schriftsteller. Ich bin Haitianer. Das heißt nicht, dass ich ein haitianischer Schriftsteller bin", meint Laferrière, der heute mit kanadischer Staatsbürgerschaft in Paris lebt und in seiner Heimat als Inkarnation des haitianischen Traums verehrt wird. In Haiti, so heißt es im Volksmund bis heute, hat man dann Glück, wenn es darum geht, eine Pechsträhne zu erwischen.

Seit 1804 regiert im kollektiven Bewusstsein der Stolz auf den Sieg gegen Napoleons Truppen und die tiefe Scham darüber, dass Haiti als Staat gescheitert und als Gesellschaft tief gespalten ist. Bis Mitte Oktober sollen die 5000 Blauhelm-Soldaten der UN-Mission abziehen. Rund 10 000 haitianische Mitarbeiter werden zugleich ihre Jobs als Fahrer, Dolmetscher und Hilfskräfte verlieren. Dennoch wird der Abzug bejubelt als "Schlusspunkt der Okkupation", oder, so drückt es der Romancier und Journalist Lyonel Trouillot aus, als Ende eines "Kriegszustandes". Nach dreizehn Jahren Einsatz kann die UN-Mission außer einer gewissen formellen politischen Stabilisierung und einer Eindämmung der Entführungs- und Raubdelikte nichts wirklich Greifbares vorweisen. Dafür hinterlassen die Blauhelme ein durch nepalesische Truppen eingeführtes, tödliches Mitbringsel: Die Cholera-Epidemie mit bisher mindestens 10 000 Opfern und geschätzt 800 000 Infizierten.

Mit vierzig Prozent Analphabeten und einem Durchschnittseinkommen von 750 Dollar im Jahr gehört Haiti zu den am wenigsten entwickelten Ländern der Erde. Wer, wenn nicht Haitis Schriftsteller, könnten von den Träumen erzählen, die die "Perle der Antillen" einst als reichste Kolonie der Welt erweckte? Die Zeiten, in denen das Land sechzig Prozent des weltweiten Kaffee-Bedarfs lieferte, sind lange vorbei. Dass die Literatur neben dem bei Kennern geschätzten Barbancourt-Rum heute das einzige erfolgreiche haitianische Export-Produkt ist, belegen nicht nur die zahlreichen im Ausland verlegten und mit internationalen Preisen bedachten Romane. Allein in Deutschland erscheinen in diesem Herbst etliche Übersetzungen, etwa "Dreizehn Voodoo-Geschichten" des Journalisten Gary Victor, der Entwicklungs-Roman "Thérèse in Tausend Stücken" von Lyonel Trouillot oder eine Neuausgabe der Kurzgeschichtensammlung von "Das Lachen Haitis" des Ethnologen Georges Anglade. Dass Frankreich sich gleich mit mehreren haitianischen Autoren auf der Frankfurter Buchmesse präsentiert, beweist, dass auch die ehemalige Kolonialmacht die Einzigartigkeit des "haitianischen Realismus" in der frankophonen Literatur erkannt hat.

"Im Elend liegt ein Quell der Kreativität", erklärt der Sänger und Dichter James Noël das scheinbare Paradoxon zwischen dem extremen Entwicklungsrückstand und dem überbordenden künstlerischen Reichtum Haitis, während er auf der Veranda des legendären Hotels Oloffson an seinem Kaffee nippt. Noël gilt als wichtigster Autor der jüngeren haitianischen Literaturszene. Nach mehreren preisgekrönten Gedichtbänden erscheint in diesen Tagen in Frankreich sein erster Roman. "Belle merveille" (dt.: "Unglaublich aber wahr") erzählt ebenso poetisch wie vielschichtig von der anhaltenden Traumatisierung der Überlebenden des Bebens von 2010 und von den Heerscharen an Reportern und Hilfsorganisationen, die die Haitianer in einer Mischung von Wut, Scham und trotzigem Stolz als "Besetzer" bezeichnen. "Das Erdbeben war wie eine Flut von schwarzen Schmetterlingen, die auf Port-au-Prince niederging", heißt es in Noëls Roman.

"Das Erdbeben war wie eine Flut schwarzer Schmetterlinge."

Der schwarze Schmetterling, dem man unter der gleißenden Sonne Haitis allenthalben begegnet, ist im Voodoo-Glauben ein Symbol des Todes. "Wir hatten das Gefühl, die Erde wollte uns einfach von ihrer Oberfläche abschütteln," meint Noël. Literarisch deutet er das Beben mit 300 000 Opfern als einen Ausdruck des universellen Scheiterns um. Haiti wird bei ihm zum Fieberthermometer eines gebeutelten Planeten. "Gerade im Angesicht des Todes wächst das Bedürfnis, die Sinnlichkeit und Poetik des Lebens zu spüren. Andererseits leiden wir eher unter einer Überdosis an Leben." Wenige Monate nach der Stunde null gründete Noël mit seiner Schweizer Partnerin Pascale Monnin das künstlerisch-literarische Magazin IntranQu'îllités. Haiti präsentiert der Herausgeber Noël als kreativen Nabel der Welt: "Jeder Mensch will doch erbeben, fundamental erschüttert und berührt werden." Das Liebespaar in seinem Roman allerdings verlässt Haiti, um in Europa ein wenig Luft zum Leben zu schnappen. Auch James Noël hat es geschafft: Am Tage nach dem Treffen auf der Veranda des weißen Holz-Hotels auf den Hügeln von Port-au-Prince reist er ab, ein Stipendium ruft ihn ein Jahr nach Nord-Frankreich. "Der kommt nicht wieder", raunen später seine schriftstellernden Kollegen ebenso eifersüchtig wie abschätzig.

Die Frage, ob man bei erster Gelegenheit das Land verlässt und damit den historischen Kollektivtraum der Selbständigkeit verrät, zieht sich wie ein roter Faden durch Haitis Literatur. "Wir sind zerrissen zwischen dem Bedürfnis der Verwurzelung in unserer Kultur und dem Drang, das Elend hinter uns zu lassen," meint etwa Yanick Lahens. Als Haitis prominenteste und mit renommierten französischen Literaturpreisen bedachte Autorin wird sie zwar auch in den USA und in Deutschland verlegt. Ihrer Heimat will sie aber trotz des internationalen Erfolgs auch nach den jüngsten Verheerungen durch Hurrikane Matthew im Herbst 2016 nicht den Rücken kehren. Aus ihrem ehemals vornehmen Wohnviertel in Pétionville oberhalb der Hauptstadt ist ein Sammelbecken für Straßenhändler und -streuner geworden, die aus der weitgehend zerstörten Innenstadt an der Küste fliehen mussten. Lahens großzügiger Villa ist durch hohe Mauern und schwere Tore abgeschirmt. Nur wenige Hundert Meter entfernt haben die Flüchtlinge ein ganzes Stadtviertel namens "Jalousie" (dt: Eifersucht) aus einfachen Beton-Verschlägen in den Berg gestapelt, in dem die staatliche Autorität nichts zu melden hat. "Als Schriftsteller fühlt man sich hier wie im inneren Exil, weil man umgeben ist von Menschen, die nicht lesen und schreiben können." Bei einem Beschulungsgrad von rund 50 Prozent sind die Perspektiven nicht eben vielversprechend.

Gerade den französischsprachigen Autoren Haitis fehlt es an Lesern im eigenen Land, wo die meisten Einwohner ausschließlich Kreol sprechen. Seit 1987 ist das Kreol als zweite Amtssprache in der Verfassung verankert, und auch der Voodoo als offizielle Religion anerkannt. Die alten Vorurteile gegen das Kulturerbe der einstigen Sklaven wirken dennoch ungemindert fort. Das in der gehobenen Gesellschaftsschicht bis heute als minderwertig erachtete Sprachengemisch gewinnt derweil als Identitätsanker rapide an Bedeutung. Die 2014 geründete "Académie Créole" etwa fungiert erstmals als Hüter einheitlicher Sprachregeln.

Mit einer günstigen Edition will sie das heimische Publikum unterstützen

"Ich bin Kreolin", mit diesem Bekenntnis rührt die Autorin Kettly Mars, die im Oktober zur Buchmesse erneut in Deutschland sein wird, an einem der neuralgischen Punkte der haitianischen Gesellschaft. Mars ist Mulattin, fühlt sich aber dem kreolischen Kulturerbe eng verbunden. Ihre Tochter, so erzählt sie in ihrem wild wachsenden Garten in Port-au-Prince, sei eine Initiierte, und auch sie selbst habe immer mehr Interesse am Imaginären des Voodoo, an den spirituellen Geschichten, die sich die Sklaven in den Schiffsbäuchen bei der Zwangsumsiedlung in die Neue Welt erzählten. Die Rechte ihres demnächst in Frankreich erscheinenden Romans über eine Familie im Griff eines Voodoo-Engels hat sie sich für Haiti gesichert, um mit einer günstigen Edition das heimische Publikum und damit auch die Verlagslandschaft zu unterstützen.

Tatsächlich sind in nur wenigen Jahren gleich drei Verlagshäuser entstanden, die sowohl auf Französisch als auch auf Kreol publizieren. "Die Kriterien sind für beide Sprachen dieselben. Ungeachtet der Marktchancen muss der Text einfach gut sein", beteuert Jémimah Labossière, Programmdirektorin von "C3" in einem spärlich eingerichteten, mit schweren Fenstergittern gesicherten Verlags-Büro in der Innenstadt. Ein Jahr nach dem Erdbeben ist das Haus unter dem Motto "Freiheit, Bürgergesellschaft, Literatur" an den Start gegangen und verlegt neben äußerst beliebten politischen Autobiografien und Analysen etwa eine Kreol-Übersetzung von Saint-Exupérys "Der kleine Prinz" sowie zahlreiche literarische Debütwerke auf Kreol. "Wir organisieren Diskussionen, Lesungen und Festivals, um noch mehr junge Leute zum Lesen zu bringen. Seit sechs Jahren haben wir großen Erfolg", sagt Jémimah Labossière lächelnd, als ob sie es selbst noch nicht recht glauben kann.

Gerade für die junge Generation hat die Literatur eine konkrete lebenspraktische Bedeutung. Bei einer Arbeitslosenrate von rund siebzig Prozent lässt man sich den Ausweg in poetische Traumwelten nicht verstellen. Im "Yanvalou" etwa, einer nach dem Beben von 2010 entstandenen Kultur- und Theaterbar im Pacot-Viertel, führt der weit gereiste Dramatiker Guy Régis sein neues Stück "Reconstructions" auf, eine schreiend komische Parodie auf die Unfähigkeit der Regierung, das internationale Hilfsgeld zum Wohle der Bevölkerung einzusetzen. Bis auf die überfüllte Veranda drängen sich die Zuschauer und sehen gebannt der nationalen Komödie zu. "In Haiti kann das Theater noch Revolutionen auslösen", meint Guy Régis später bei einem Bier an der Bar, obwohl oder gerade weil es in Haiti nicht einen einzigen regulären Theatersaal gibt. Seit einigen Jahren ist Régis mit seinem Kollektiv "NOUS" unter dem Motto "Theater mit allen Mitteln" in den Straßen Haitis und auf renommierten Festivals in Belgien und Frankreich unterwegs. Zur Legende wurde er schon 2003, als eine seiner Inszenierungen in einer Bauruine in Port-au-Prince sich zur ersten Massendemonstration gegen den damaligen Präsidenten Aristide entwickelt haben soll.

Nach dem wilden Schlussapplaus im "Yanvalou" stellt sich plötzlich ein junger Mann mit dunkler Sonnenbrille vor und überreicht einen Gedichtband mit seinem Konterfei. Der Dichter Coutechev Aupant, so ist auf der Rückseite des Buches zu lesen, hat zwei renommierte Preise für seine Werke auf Kreol und Französisch erhalten und ist derzeit arbeitssuchend. "Der Mensch findet seinen Platz in dem Augenblick, in dem er seine Stimme erhebt", heißt es in einem der Gedichte. "Jeder Autor ist auch Bürger", erklärt Aupant bestimmt. Er plädiert für ein haitianisches Selbstbewusstsein wie zu Zeiten der Négritude-Bewegung der 1950er-Jahre. "Wir Schriftsteller haben eine Verantwortung für die Identität unseres Landes. Wir müssen die Mythen aufschreiben, die von unserer Herkunft und von unseren Träumen erzählen."

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Quelle:
SZ vom 06.10.2017
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